Arbeitsmarkt

Stabilitäts­anker mit Macken

Deutschland ist recht stabil durch die Krise geschippert. Doch die Schwächen am Arbeitsmarkt wirken langfristig – und das macht sie gefährlich.

Stabilitäts­anker mit Macken

Seit Monaten kommen von der Bundesagentur für Arbeit (BA) fast ausschließlich positive Meldungen: mehr Beschäftigte, eine steigende Arbeitskräftenachfrage, eine stetig sinkende Arbeitslosenquote. Die beachtliche Aufwärtsbewegung ist selbst in den Monaten Juli und August zu beobachten, die traditionell einen saisonalen Rückgang der Beschäftigung mit sich bringen. Der Arbeitsmarkt ist der Stabilitätsanker der deutschen Wirtschaft in dieser Krise. Allerdings lassen sich die Macken nicht leugnen. Ihre Gefahr: Sie wirken eher langfristig – wie Rost, der langsam ansetzt und irgendwann selbst den stabilsten Anker zerfrisst.

Der Blick in andere Volkswirtschaften zeigt: Die Bundesrepublik ist vergleichsweise sicher durch die Krise geschippert. Nach anfänglichen Produktionsstillständen und einer sprunghaft ansteigenden Arbeitslosenzahl gelangte die Wirtschaft rasch wieder in ruhigere Fahrwasser. Der Kurs ist klar auf Erholung ausgerichtet, auch wenn zuletzt neue Probleme wie etwa die Lieferengpässe, eine sinkende Nachfrage aus dem Ausland oder die Hochwasserkatastrophe im Westen der Republik für eine Verlangsamung des Tempos sorgten. Grund für den stabilen Krisenkurs waren nicht zuletzt die umfassenden staatlichen Hilfen. Eine Milliardensumme wurde der Bundesagentur für Arbeit zur Verfügung gestellt, um Millionen von Menschen konjunkturelles Kurzarbeitergeld zu bezahlen. Es lohnte sich: Durch die Fortzahlung des Kurzarbeitergeldes gingen Hunderttausende nicht von Bord, rund eine Million Arbeitsplätze wurden gesichert. Ein Vorteil nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Firmen: Nach dem Ende der akuten Krise mussten sie nicht direkt mühsam auf Mitarbeitersuche gehen, sondern holten ihre Kurzarbeiter zurück in den Betrieb.

Denn genau hier liegt eine der großen Macken, die den Stabilitätsanker Arbeitsmarkt langfristig schädigen könnten: Die Arbeitskräftenachfrage wächst. Doch es fehlt an geeignetem Personal. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Einerseits kommt der Ausbildungsmarkt nicht aus seinem Tief. So wenige Ausbildungsverträge wie im laufenden Jahr zählte die Bundesagentur für Arbeit seit Jahrzehnten nicht. Die Pandemie hat sich hier nachhaltig ausgewirkt: Erst kamen Betriebe und Ausbildungswillige nicht zusammen, weil die Informationsveranstaltungen abgesagt wurden oder nur in deutlich kleinerem Rahmen stattfinden konnten. Zahlreiche junge Menschen entschieden sich daher für eine weitere Schulbildung oder orientierten sich anderweitig. Immer mehr von ihnen strömen an die Universitäten, immer weniger von ihnen interessieren sich für eine Ausbildung. Andererseits orientierten sich viele Ausgelernte während der inzwischen über ein Jahr andauernden Krise neu. Der Luftfahrt, dem Gastronomiegewerbe und anderen Dienstleistern gehen die Mitarbeiter aus. Gewerkschaften zufolge hat jeder sechste Mitarbeiter in der Luftfahrt die Branche dauerhaft verlassen. Die ersten Gaststätten müssen tageweise schließen – wegen Personalmangels. Sprich: Die Kunden wären da, allein es fehlt an Mitarbeitern.

Inzwischen klagt weit mehr als jedes dritte Unternehmen zudem über fehlenden Fachkräftenachwuchs als drängendstes Problem. Die Coronakrise behob den Mangel nur scheinbar und nur temporär, als die Betriebe während des Stillstands ohnehin weniger Mitarbeiter suchten. Doch nun fehlt es an allen Ecken und Enden. Der Nachwuchs bleibt aus, die Zuwanderung von Fachkräften stockt – nicht zuletzt aufgrund strengerer Reisebedingungen durch die Pandemie. Analysen zufolge bleiben offene Stellen bis zu dreimal so lange unbesetzt als vor der Pandemie.

Noch klingt all das wie eine ordentliche Brise, doch sie könnte sich schnell zu einem veritablen Sturm auswachsen. Denn am Ausbildungsmarkt etwa ist bislang nur von einer leichten Aufhellung die Rede. Die Stimmung in den Chefetagen hat sich aufgrund der sich ausbreitenden Delta-Variante des Coronavirus über den Sommer bereits wieder leicht eingetrübt. Hinzu kommen die Materialengpässe, die sich länger halten als befürchtet. Volle Auftragsbücher in der Industrie können nicht abgearbeitet werden. Und der vermeintliche Stabilitätsanker Arbeitsmarkt wächst sich längst selbst zu einem Problem aus. Für die neue Bundesregierung gibt es allerhand zu tun, selbst wenn sich die vierte Coronawelle als nicht so schlimm herausstellen sollte. Die Probleme liegen tiefer und waren schon vor der Krise da: Den demografischen Wandel, Fachkräftemangel und die Ebbe auf dem Ausbildungsmarkt hat die Coronakrise nur verstärkt, nicht provoziert.

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