Washington

„Tipflation“ und der Zwang zum Zahlen

Seit dem Thanksgiving-Feiertag boomt in den USA das Weihnachtsgeschäft. Begleitet wird der Konsumrausch allerdings von einem neuen Phänomen, das Verbraucher verunsichert und zunehmend irritiert.

„Tipflation“ und der Zwang zum Zahlen

Mehr als die Hälfte der US-Verbraucher ist aktuellen Umfragen zufolge der Meinung, dass die Wirtschaft bereits in eine Rezession abgerutscht ist. Sie klagen vor allem über die Inflation und rechnen damit, dass die hohen Preise sie zum Verzicht auf Urlaubsreisen oder auf den Kauf eines Neuwagens zwingen wird, der den zwanzig Jahre alten Truck in der Garageneinfahrt ersetzen soll. Umso erstaunlicher ist, dass das Weihnachtsgeschäft dem Einzelhandel bisher rekordverdächtige Umsätze beschert hat und für den Konsumrausch zumindest bis zum Heiligen Abend, an dem Zauderer noch hektisch nach ihren Last-Minute-Geschenken fahnden, kein Ende in Sicht ist.

Wie die National Retail Federation (NRF), der Dachverband der Einzelhandelsbranche berichtet, fanden Haushalte selbst am Thanksgiving-Feiertag, der eigentlich Familientreffen sowie dem Verzehr von Truthahn, Kartoffelbrei und Kürbistorte gewidmet ist, dennoch die Zeit, um Online-Einkäufe im Wert von 5,2 Mrd. Dollar zu tätigen. Am Tag danach, dem Black Friday, traditionell der umsatzstärkste Tag des Jahres, lag dann die Zahl von Kunden, die in Shopping Malls und anderen Einkaufszentren persönlich erschienen, 64% über dem Stand vom Vorjahr.

Die Mall-Besuche hängen zum einen damit zusammen, dass 2021 noch die Angst vor einer möglichen Corona-Infektion Verbraucher zwang, ihre Kaufgewohnheiten anzupassen. Laut NRF ändert die hohe Besucherzahl aber nichts daran, dass ungeachtet der Rezessionssorgen die Konsumlust der Haushalte gestiegen ist. Schließlich rechnet der Verband damit, dass Verbraucher von Thanksgiving bis Weihnachten zwischen 940 und 960 Mrd. Dollar in die Kassen der Einzelhändler spülen werden – das wäre ein Anstieg um stattliche 8% gegenüber dem Vorjahr.

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Begleitet werden die steigenden Umsätze aber von einem neuen Phänomen, das bei inflationsmüden Konsumenten sowohl Verunsicherung als auch zunehmende Irritation ausgelöst hat. Während es nämlich in den USA in Restaurants und Kneipen üblich ist, großzügige Trinkgelder zu hinterlassen, erwarten immer häufiger auch herkömmliche Einzelhandelsunternehmen und selbst Firmen, die ausschließlich im Onlineversand tätig sind, dass Kunden die Rechnung freiwillig aufrunden.

Susan Morgan aus Virginia erzählt, dass sie in einem gewerblich betriebenen Obstgarten am Wochenende vor Thanksgiving mit ihren Kindern Äpfel pflücken wollte. Bei der Online-Reservierung wurde dann vorgeschlagen, dass sie ein Trinkgeld von 18, 20 oder 22% spendet. „Ich soll also dafür zahlen, dass wir die Arbeit tun, dorthin fahren und uns selbst die Äpfel sammeln?“, sagt die ungläubige Mutter. „Tips“ also Trinkgelder, werden mittlerweile auch in Fast-Food-Lokalen, im Kosmetikhandel und selbst bei voll automatisierten Autowaschanlagen. Viele Verbraucher berichten, dass sie deswegen zahlen, weil sie sich unter Druck gesetzt fühlen und nicht geizig wirken wollen. Andere klagen aber darüber, dass in einer Ära hoher Preise die „Tipflation“ ohnehin teure Waren und Dienstleistungen nahezu unerschwinglich macht.

Experten meinen, dass sich der Trend unter anderem auf den Übergang zum kontaktlosen Zahlungsverkehr zurückführen lässt, bei dem die Transaktion mit den Alternativen verschiedener Prozentsätze oder der Option „Kein Trinkgeld“ beendet wird.

Obwohl die Trinkgelder formal lediglich „empfohlen“ werden, vermutet der renommierte Computerdesign-Experte Harry Brignull einen bewussten Manipulationsversuch. Von ihm stammt das Konzept sogenannter „dark patterns“, die darauf abzielen, Konsumverhalten zu beeinflussen. Häufig sei auf Bildschirmen der Tab, der einen „Tip“ ablehnt, schwer zu finden. Wer in einer Schlange steht und andere Kunden nicht aufhalten will, neige eher dazu, ein unnötiges Trinkgeld zu geben. Laut Brignull sei das der bewusste Versuch, bei Konsumenten Schuldgefühle zu wecken. „Dann handelt es sich aber nicht mehr um eine freie Entscheidung seitens des Verbrauchers, sondern vielmehr den Zwang, mehr zu zahlen“.

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