Geldpolitik

EZB wagt den großen Zinsschritt

Die EZB hat den Leitzins um 0,75 Prozentpunkte angehoben – die stärkste Anhebung seit der Einführung des Euro. Die starke und nach Institutsprognosen wohl auch 2023 anhaltende Teuerung mache dies nötig. Auch die US-Notenbank bekräftig strikten Zinskurs.

EZB wagt den großen Zinsschritt

Der EZB-Rat hat – wie von den meisten Beobachtern erwartet – beschlossen, die drei Leitzinssätze der EZB um jeweils 75 Basispunkte anzuheben. Das ist die stärkste Anhebung seit der Einführung des Euro als Buchgeld im Jahr 1999. Dieser Schritt sorge für einen früheren Übergang von dem derzeitigen, stark akkommodierenden Leitzinsniveau auf ein Niveau, das eine zeitnahe Rückkehr der Inflation auf das mittelfristige 2 %-Ziel der EZB gewährleiste, hieß es in der Erklärung. Zudem betonte die Notenbank, dass sie auf Grundlage ihrer aktuellen Einschätzung davon ausgehe, dass sie „die Zinsen in den nächsten Sitzungen weiter erhöht“ würden, um die Nachfrage zu dämpfen und dem Risiko einer andauernden Aufwärtsverschiebung der Inflationserwartungen vorzubeugen.

Die Zinsentscheidung ist nach den Worten von EZB-Präsidentin Christine Lagarde mit großer Einigkeit beschlossen worden: „Der EZB-Rat hat einstimmig entschieden“, sagte sie am Donnerstag. „Wir hatten unterschiedliche Ansichten am Tisch, eine gründliche Diskussion, aber das Ergebnis unserer Diskussionen war eine einstimmige Entscheidung.“

EZB-Rat im Dilemma

Marktbeobachter sehen die Notenbank grundsätzlich hier in einem Dilemma, weil sie erst sehr spät auf die steigende Inflation reagiert hat und sich konjunkturell bereits eine Rezession ankündigt, die von der Zinsanhebung nun zunächst weiter befeuert wird. Allerdings sind umgekehrt auch die stark steigenden Preise ein Grund für die wirtschaftliche Schwächephase, womit die EZB ihre Haltung rechtfertigt. Die Inflation, so Lagarde, sei nach wie vor deutlich zu hoch und bleibe „voraussichtlich für längere Zeit über dem Zielwert“. Aus demselben Grund gehe der EZB-Rat davon aus, dass er die Zinsen weiter anheben werde.

Der Schnellschätzung von Eurostat zufolge erreichte die Inflationsrate im August 9,1%. Getrieben wird die Inflation weiterhin von stark steigenden Energie- und Nahrungsmittelpreisen, dem in einigen Sektoren herrschenden Nachfragedruck infolge der Wiederöffnung der Wirtschaft sowie von Lieferengpässen. Der Preisdruck habe in der gesamten Wirtschaft weiterhin an Stärke und Breite gewonnen, argumentiert die EZB. Auf kurze Sicht könne die Inflation ferner weiter anziehen. Wenn die derzeitigen Inflationstreiber mit der Zeit nachließen und die Normalisierung der Geldpolitik auf die Wirtschaft und die Preisbildung durchschlage, werde die Inflation sinken. Fachleute der EZB haben ihre neuen Projektionen für die Inflation denn auch deutlich nach oben korrigiert. Sie rechnen nun mit durchschnittlichen Inflationsraten von 8,1% für 2022, 5,5% für 2023 und 2,3% für 2024.

Auch Fed wird Zinsen weiter anziehen

Am Markt gingen die Wetten bereits seit längerer Zeit in Richtung Rekord-Zinserhöhung. Zur Eindämmung der hartnäckigen Inflation haben bereits mehr als 40 Zentralbanken auf der ganzen Welt zu extragroßen Zinserhöhungen gegriffen. Auch der Präsident der US-Notenbank bekräftigte, dass die Zinszügel weiter angezogen werden – trotz Rezessionssorgen an den Finanzmärkten. Es sei „starkes und nachdrückliches“ Handeln gefragt, sagte Fed-Chef Jerome Powell am Donnerstag in Washington auf einer Konferenz. Die Aufgabe der Fed sei noch nicht erfüllt. Zugleich dämpfte er Erwartungen, die Fed könne die Zinszügel in näherer Zukunft lockern. Die Geschichte diene als warnendes Beispiel, dass man die Geldpolitik nicht verfrüht lockern dürfe. Die Notenbank habe sich dem Kampf gegen die Inflation verschrieben und werde sich dabei nicht von politischen Erwägungen beeinflussen lassen, betonte Powell.

„Historische Entscheidung der EZB“

Ökonomen wie Matteo Cominetta, Senior Economist beim Barings Investment Institute, sprachen von einer „historischen Entscheidung“ der EZB. Das Signal, das die EZB den Märkten habe geben wollen, sei laut und deutlich: „Die Kontrolle der Inflation hat jetzt Priorität, die Vermeidung einer sich verschärfenden Rezession, die jeden Tag wahrscheinlicher wird, ist zweitrangig.“ Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim betonte:, „Der große Zinsschritt war unausweichlich. Angesichts einer vermutlich bald zweistelligen Inflationsrate in der Euro-Zone mussten auch die Tauben im Rat den Widerstand gegen starke Zinserhöhungen aufgeben.“ Zumal, so der Ökonom, die EZB durch ihre eklatanten Inflations-Fehlprognosen einen großen Ansehensverlust erlitten habe, der nun durch besonders steigende Inflationserwartungen der Finanzprofis deutlich werde. Hier müsse die EZB durch einen straffen Kurs nun neue Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Jetzt komme es darauf an, dass die EZB ihre Leitzinsen in den kommenden Monaten trotz steigender Rezessionsrisiken auch tatsächlich weiter kräftig anhebt, mahnt Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Die EZB „sollte zügig über das konjunkturneutrale Zinsniveau hinausgehen, das ich bei 2,5 bis 3% sehe. Andernfalls büßt sie weiter an Glaubwürdigkeit ein, und die deutlich gestiegenen langfristigen Inflationserwartungen der Bürger drohen zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden.“ Auch Altaf Kassam, Leiter des Investment Strategy & Research bei State Street Global Advisors, blickt auf die weitere Entwicklung: „Wir gehen davon aus, dass die EZB ihr Tempo bei den Zinserhöhungen verlangsamen und im Oktober weitere 50 Basispunkte und im Dezember 25 Basispunkte anheben wird, so dass der Leitzins (Einlagenzins) zum Jahresende bei 1,50 % liegen wird.“ Die heutige „Supererhöhung“ sei weniger ein Vorziehen als ein Nachholen gewesen. Das sollte der EZB eine Atempause verschaffen, damit sie sich auf andere Themen konzentrieren kann, wie die mögliche Beendigung der Reinvestitionen in das Programm zum Ankauf von Vermögenswerten (APP) und die Aktivierung des Transmissionsschutzinstruments (TPI). Wie die revidierten Prognosen der EZB zeigten, wird 2023 ein düsteres Jahr werden, und die Zentralbank brauche so viel Flexibilität wie möglich.

Kritik an EZB-Kommunikation

Kritik an den „Versprechungen“ der EZB äußerte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und davor selber Volkswirt bei der Notenbank. Das Versprechen von weiteren starken Zinserhöhungen im Jahr 2023 und einer baldigen Rückkehr zur Preisstabilität werde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit als unerfüllbar erweisen. Denn die EZB, wie die meisten anderen Zentralbanken, habe in diesen Krisenzeiten zu wenig Einfluss auf die Inflation über die kommenden eineinhalb Jahre, da diese hauptsächlich durch höhere Preise für Energie und andere vorrangig importierte Güter getrieben werde. Fratzscher: „Ich halte daher die EZB-Prognose einer Rückkehr zu einer Inflationsrate von knapp 2% im Jahr 2024 für unrealistisch.“ Die Gefahr einer tiefen Rezession in der Eurozone 2023 und Risiken der Finanzstabilität würden es der EZB zudem kaum möglich machen, die Leitzinsen ähnlich stark zu erhöhen wie die US-Notenbank.

Deutsche Wirtschaft im „Abwärtssog“

Gerade die deutsche Wirtschaft leidet im Moment bereits unter der starken Teuerung und steuert auf eine Rezession hin, weil Unternehmen und Bürgern Kaufkraft entzogen wird und sie sich mit Investitionen und Konsum zurückhalten (müssen), was das Dilemma unterstreicht, in dem sich die EZB jetzt befindet. Führende Institute überbieten sich angesichts steigender Energiepreise bereits mit überaus negativen Prognosen für Verbraucher und Wirtschaft. Besonders pessimistisch gibt sich das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH), das für 2023 eine Inflationsrate von 9,5% vorhersagt. Diese würde deutlich über der für das laufende Jahr erwarteten Teuerung von 7,9% liegen. Auch dem Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) zufolge steht den Verbrauchern das Schlimmste noch bevor. Sofern die Preise für Strom und Gas infolge des russischen Krieges in der Ukraine für längere Zeit hoch bleiben, werde die Teuerungsrate im kommenden Jahr auf 8,7% hochschnellen.

„Die deutsche Wirtschaft befindet sich im Abwärtssog“, fassten die Ökonominnen und Ökonomen des IfW ihre Prognose zusammen. Da der private Konsum einen Großteil der Wirtschaftsleistung ausmacht, hat der erwartete Kaufkraftverlust negative Folgen für die Konjunktur. Dem IWH zufolge wird das Bruttoinlandsprodukt 2023 um 1,4% sinken, während das IfW einen halb so starken Rückgang erwartet. Im laufenden Jahr soll es noch zu einem Wachstum reichen, das aber mit 1,1 bzw. 1,4% niedriger ausfallen soll als noch im Sommer angenommen. „Die jüngsten Preissprünge bei Strom und Gas werden die Kaufkraft der privaten Haushalte spürbar verringern“, so das IfW. Diese dürfte im kommenden Jahr mit 4,2 Prozent so stark einbrechen wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland und in der Folge den privaten Konsum bis weit ins kommende Jahr hinein schrumpfen lassen.

Investitionen gehen zurück

Zudem dürften die weltweite Konjunkturflaute nicht nur die Exporte, sondern auch die Investitionen merklich dämpfen. „Im Ergebnis wird die deutsche Wirtschaft erneut in eine Rezession abgleiten – in einer Phase, in der sie sich gerade von den pandemiebedingten Rückschlägen erholte“, so die Kieler Volkswirte. Eine Beruhigung sagen die Forscher erst für 2024 voraus: Das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung aus Essen rechnet dann mit einem Wirtschaftswachstum von 2,6%, während die Inflationsrate zugleich auf 1,6% sinken soll.

Die Rezession wird auch Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen, befürchten die Ökonomen. „Aufgrund des Fachkräftemangels dürften sie jedoch vergleichsweise gering ausfallen“, so das IfW. Die Kollegen aus Halle erwarten, dass die Zahl der Erwerbstätigen bis 2024 auf 45,9 Millionen steigen wird. Das wären rund 900.000 mehr als 2021. Die Zahl der Arbeitslosen soll um die Marke von 2,5 Millionen pendeln. Allerdings könne es im kommenden Winterhalbjahr wieder mehr Kurzarbeit geben, so die Ökonomen aus Halle.

Auch die Neuverschuldung des Staates dürfte sich in Grenzen halten. Lag das gesamtstaatliche Finanzierungsdefizit im vergangenen Jahr noch bei 3,7% des Bruttoinlandsproduktes, soll es 2023 trotz der erwarteten Rezession auf 1,1% fallen – vor allem, weil sich Steuer- und Beitragseinnahmen spürbar erhöhen sowie Pandemiehilfen und ein Teil der Maßnahmen aus den Entlastungspaketen bereits wieder entfallen.