US-Aktienmarkt

Die Wall Street hat Risiken ausgeblendet

Lockere Zinsen und der Mangel an Anlagealternativen haben den US-Börsen 2021 ein Rekordjahr beschert. Doch der Unterbau der Wall Street beginnt, bedrohlich zu bröckeln.

Die Wall Street hat Risiken ausgeblendet

Man muss es schon mit der Lupe suchen, so ein Börsenjahr wie 2021. Denn trotz steigender Inflation und weiterer Coronawellen haben sich die Märkte außerordentlich robust entwickelt. Bis auf einen kurzen Taucher Ende November, als die Kurse aufgrund der neu aufgetretenen Omikron-Variante ins Minus stürzten, behielten die Bullen die Oberhand. 21 Monate nach dem größten Kurseinbruch seit 1987 blicken Amerikas Investoren auf ein Rekordjahr zurück.

Zeitweise wirkte es so, als hätte die Wall Street all ihre Sorgen über Bord geworfen. Denn selbst in wirtschaftlich guten Zeiten stiegen die US-Märkte selten so rasant. Ein Plus von 27% verbuchte der S&P 500 seit Jahresanfang; das sind 16% mehr als im Durchschnitt der vergangenen 30 Jahre. Zugleich erreichte der Leitindex 69 Rekordstände, der zweithöchste Wert seit 1995.

Allen Virus- und Lieferkettensorgen zum Trotz hat das zweite Coronajahr so neue Maßstäbe gesetzt. „Ungeachtet all der Dinge, die hätten schiefgehen können, haben sich die Investoren auf die Erholung der Unternehmensgewinne fokussiert“, sagt Sam Stovall, Chef-Anlagestratege bei CFRA Research. Die Wall Street habe konsequent „über das Tal geschaut“ und alle Risiken ausgeblendet. Nur durch jene Scheuklappen sei zu erklären, warum die Volatilität auf Jahressicht so gering ausgefallen sei.

Doch zur Wahrheit gehört auch, dass alternative Anlagemöglichkeiten fehlen. Das setzt vor allem Sparer mit Sichteinlagen unter Druck. Zu den Niedrig- oder gar Negativzinsen gesellte sich im Jahresverlauf ein heftiger Preisauftrieb. In den USA stieg die Inflation mit 6,8% gar auf den höchsten Wert seit 39 Jahren, die Realzinsen notieren weit im negativen Bereich. Das heizt den ohnehin hohen Investitionsdruck weiter an.

Noch mehr aber hat die expansive Geldpolitik dazu beigetragen, die Börsen-Rally 2021 aufrechtzuerhalten. Nicht umsonst gilt der Ausspruch „Don’t fight the Fed“ gerade in Krisenzeiten. 8,7 Bill. Dollar hat die Notenbank seit März 2020 für quantitative Lockerungsmaßnahmen bereitgestellt. Nicht einmal während der Finanzkrise pumpte sie so viel Liquidität in die US-Märkte.

Kleinanleger-Anteil steigt

Wer glaubt, es hätten sich nur Profis in den Risk-on-Modus begeben, liegt derweil falsch. Dank aufstrebender Online-Broker und eines bislang einmaligen Börsenspektakels, bei dem sich Retail-Investoren im Internetforum Reddit zusammenschlossen, um große Hedgefonds zu stürzen, stieg die Quote der Kleinanleger am US-Aktienhandel im ersten Quartal über 40%. „Ich bin begeistert, dass endlich alle zu dieser Party eingeladen wurden und die Eintrittsbarrieren gefallen sind“, sagt Peter Tuchman, einer der bekanntesten Händler an der New York Stock Exchange. „Ich fürchte nur, dass viele ihre Konten in die Luft jagen werden, weil sie nicht wissen, was sie da tun.“

Die Wall Street hat längst einen Namen für diese neue Realität. „Känguru-Markt“ nennen Analysten das Phänomen, das dafür sorgt, dass die Kurse teils ohne ersichtlichen Grund auf und ab gesprungen sind. Wichtige Kennzahlen und Bewertungsmaßstäbe wurden dabei weitgehend ignoriert, auch aus Angst, „the next big thing“ zu verpassen. Wie sonst ist es zu erklären, dass etwa ein Hersteller von Elektro-Pick-ups, der zum Zeitpunkt seines Initial Public Offerings (IPO) im November gerade einmal 156 Fahrzeuge ausgeliefert hatte, an der Börse wertvoller ist als ein Auto-Urgestein, bei dem jährlich mehrere Millionen Wagen vom Band rollen?

Apropos IPO: Auch hier gab es eine Menge Rekorde. Der Datenanbieter Dealogic etwa zählte 1057 Börsengänge, zwei Drittel davon Spacs, die eine Rekordsumme von mehr als 315 Mrd. Dollar einspielten. Gleichzeitig erreichten etablierte Unternehmen, die zuvor bereits großzügig bewertet waren, noch höhere Kursniveaus – so auch der Elektro-Pionier Tesla, dessen Börsenwert zeitweise über die Marke von 1 Bill. Dollar kletterte. Apple könnte unterdessen bald eine Marktkapitalisierung von 3 Bill. Dollar durch­brechen.

Diese Exzesse lassen indes ungute Erinnerungen wach werden. Nicht ohne Grund warnte Ex-Notenbankchef Alan Greenspan schon im Dezember 1996 vor „irrationalem Überschwang“. Bereits damals lag das zyklisch adjustierte Kurs-Gewinn-Verhältnis nach dem Modell des US-Nobelpreisträgers Robert Shiller bei 27,7 – dies bedeutete den höchsten Stand seit 1929. Aktuell erreicht die Bewertungskennzahl einen Wert von 40,1 – fast so hoch wie zur Jahrtausendwende, als die Technologieblase platzte.

Viele Firmen können diesen enormen Bewertungen nicht mehr standhalten, das zeigt die verschwindend geringe Marktbreite. Denn während die Indizes bis zuletzt Höchststände markierten, rutschte eine wachsende Zahl an Einzelwerten in den Bärenmarkt ab. Nach Angaben des Datenanbieters Factset lagen Anfang Dezember bereits ein Drittel aller Aktien im S&P 500 mindestens 20% unter ihrer Bestmarke. Trotz der Rekorde ist die Wall Street also weitaus fragiler, als die Index-Ebene vermuten lässt. Der Unterbau der Wall Street beginnt also deutlich zu bröckeln.

Die US-Wirtschaft reflektiert den rasanten Aufwärtstrend der Börsen ohnehin längst nicht mehr. Denn obwohl sich die Konjunktur erholte und sich Lieferengpässe allmählich entspannen, verflacht das Wachstum der weltgrößten Volkswirtschaft. Nun steht auch noch der 1,75 Bill. Dollar teure „Build Back Better“-Plan von Joe Biden auf der Kippe, nachdem es dem Präsidenten nicht gelungen war, seinen konservativen Parteikollegen Joe Manchin von dem Projekt zu überzeugen. Nun revidieren einige Ökonomen ihre Wachstumsprognosen nach unten.

Zudem lässt die Kurswende der Notenbank Anleger vorsichtiger werden. Auf das Ende der ultralockeren Geldpolitik könnten 2022 schließlich gleich drei Zinsschritte folgen, die eine KGV-Kontraktion nach sich ziehen dürfte. Auch historisch gesehen könnte das kommende Jahr eher ein mageres für die Wall Street werden: Im März starte schließlich das dritte Jahr des laufenden Bullenmarkts, sagt Analyst Stovall. „Mit einer Rendite von 4,4% liefert ein solches Jahr im Schnitt die schlechteste Performance der gesamten Hausse.“

Von Sabrina Keßler, New York

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