Bärenmarkt-Rally

Aktienmärkte stehen vor einer holprigen Wegstrecke

Günstige Bewertungen in Europa bieten für langfristig ausgerichtete Investoren Einstiegsmöglichkeiten. Kurzfristig scheint jedoch eine defensive Ausrichtung ratsam.

Aktienmärkte stehen vor einer holprigen Wegstrecke

Kaum ein Begriff ist im alten Jahr unter Aktienexperten so häufig genutzt worden wie derjenige der Bärenmarkt-Rally. Er bezeichnet eine vorübergehende Gegenbewegung innerhalb eines Bärenmarktes, die nach relativ kurzer Zeit wieder abgebrochen wird, und davon gab es 2022 mehrere. Sie starteten in den Monaten März, Mai und Juli. Die Frage für das neue Jahr ist nun, ob es sich bei der im September gestarteten Gegenbewegung, die den Dax von seinem Tief bei 11862 Punkten bis auf 14571 getragen hat, ebenfalls nur um eine

Bärenmarkt-Rally handelt, was viele Experten glauben, oder um den Auftakt einer nachhaltigeren Erholungsbewegung.

Angesichts der vielfältigen Unwägbarkeiten kann es auf die Frage, ob nach dem furchtbaren, vom entsetzlichen Krieg in der Ukraine geprägten Jahr ein besserer Aktienjahrgang bevorsteht, derzeit keine einfache Antwort geben. Auf der Habenseite – und das ist der Haupttreiber der im September gestarteten Rally – stehen die sich mehrenden Anzeichen, dass die Inflation zurückgeht. Damit einher geht die Aussicht, dass der Zinserhöhungszyklus auf sein Ende zugeht. Außerdem stellen sich die Aussichten im Euroraum für die Konjunktur nicht mehr so schlimm dar wie noch vor wenigen Wochen, als vor allem die Gaskrise einen schweren wirtschaftlichen Einbruch befürchten ließ. Es sieht so aus, als ob eine Gasrationierung in diesem Winter vermieden werden kann. Hinzu kommen Hoffnungen, dass Lockerungen von Corona-Restriktionen dem chinesischen Wachstum wieder auf die Sprünge helfen werden.

Robuste Gewinne

Zudem erweisen sich die Unternehmensgewinne als überraschend robust, unter anderem, weil die Firmen insgesamt gesehen bislang ihre gestiegenen Kosten an die Kunden weiterreichen können. So sind etwa die Gewinne der Stoxx-Europe-600-Unternehmen im Vorjahresvergleich um rund 30% gestiegen. Nicht zuletzt sind die Bewertungen an den europäischen Aktienmärkten günstig beziehungsweise unter langjährige Durchschnitte gesunken. So liegt etwa das Kurs-Gewinn-Verhältnis des Dax auf Basis der Gewinnschätzungen für das nächste Jahr bei rund 11,5. All dies nährt Hoffnungen, dass das neue Jahr Besserung für die Aktienmärkte bringen wird.

Allerdings wird auch 2023 ein schwieriges Jahr sein, und eher als auf eine zügige Rückkehr zu den alten Höhen von vor rund einem Jahr müssen sich die Anleger auf eine anhaltend holprige Wegstrecke mit temporären Rückschlägen einstellen. Denn trotz der sich mehrenden Anzeichen dafür, dass die Aktienmärkte ihr Tief hinter sich gelassen haben könnten, sehen sie sich nach wie vor erheblichen Gegenwinden ausgesetzt. So eben gerade seitens der Geldpolitik. In der aktuellen Diskussion ist die Tatsache ein wenig in den Hintergrund gedrängt worden, dass langsamer steigende Zinsen nun einmal keine potenziell Aktienkurse treibende Zinssenkungen sind. Der Markt muss also für einen längeren Zeitraum mit höheren Zinsen leben, mit all den davon ausgehenden Belastungen auf der Finanzierungs- und der Bewertungsseite.

Rezession im Anmarsch

Mehr noch: Aufgrund der deutlich höheren Zinsen – laut Morgan Stanley sind die Leitzinsen in den USA so stark gestiegen wie zuletzt Anfang der achtziger Jahre und im Euroraum so deutlich wie noch nie seit seiner Entstehung – steuern beide Regionen auf eine Rezession zu. Sowohl in den USA als nun auch im Euroraum ist die Zinskurve invers – in der Vergangenheit ein sehr zuverlässiger Vorbote einer Rezession. Auch wenn die Rezession wie von Fachleuten gehofft eher milde ausfallen sollte, kann dies wohl kaum spurlos an den bislang so robusten Unternehmensgewinnen und Gewinnerwartungen vorbeigehen. Damit stehen in den kommenden Monaten potenziell marktbelastende Negativrevisionen der Gewinnschätzungen bevor, mit denen sich auch die niedrigen Bewertungen auf Basis der Schätzungen für 2023 ein Stück weit relativieren. Die Geldpolitik bleibt aber nicht nur aufgrund der steigenden Zinsen ein Risikofaktor. Hinzu kommt die Reduzierung der Notenbankbilanzen, mit der die amerikanische Fed bereits begonnen hat. Mit dem Quantitative Tightening, dem Abbau der immensen Wertpapierbestände der Zentralbanken, geht eine Reduzierung der Liquidität einher, ebenfalls kein positiver Faktor aus Sicht der Aktienmärkte.

Ein mögliches Szenario für das neue Jahr könnte in dieser Gemengelage sein, dass zunächst eine schwierigere Phase für die Aktienmärkte mit Rückschlägen nach den starken zurückliegenden Monaten bevorsteht, die allerdings günstigere Einstiegsgelegenheiten schafft und an die sich eine Erholung im weiteren Jahresverlauf an­schließt. In der Summe könnte dann als Endergebnis ein moderat positiver Anlageertrag herausspringen und den Investoren somit ein zweites Negativjahr in Folge erspart bleiben.

Eine große Unbekannte, die für jeden Versuch eines Ausblicks auf das neue Jahr ein Problem darstellt, ist der Ukraine-Krieg. Ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen, das aus wesentlich wichtigeren Gründen als den Aktienmarktperspektiven herbeigesehnt wird, scheint derzeit nicht absehbar. Sobald sich aber erste glaubhafte Signale für ernst zu nehmende Bemühungen um einen Waffenstillstand (an den sich ein langwieriger, komplexer internationaler Verhandlungsprozess über eine nachhaltige Lösung des Konfliktes anschließen müsste) einstellen, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem starken Aufwärtsschub an den Aktienmärkten kommen.

Davon würden insbesondere die europäischen Aktienmärkte profitieren, die überproportional von dem Konflikt betroffen sind. Die Folge könnte eine Phase der Outperformance im Vergleich zum weniger stark betroffenen US-Aktienmarkt sein, der zudem wesentlich höhere Bewertungen aufweist. Eine nachhaltigere Outperformance Europas scheint aber aus mehreren Gründen wenig wahrscheinlich. So sind die Vereinigten Staaten, was die Inflations- und damit die Zinsentwicklung betrifft, Europa voraus. Anders als im Euroraum, für den auch Anfang 2023 noch recht hohe Teuerungsraten zu befürchten sind, wird sich für die Vereinigten Staaten nach Einschätzung von Experten im Verlauf des Jahres wieder Spielraum für Zinssenkungen ergeben. Sollte es zu einem Waffenstillstand zwischen der Ukraine und Russland kommen, wäre damit außerdem das Energieproblem Europas noch nicht gelöst. Denn es ist wenig wahrscheinlich, dass nach einem Waffenstillstand zügig wieder billiges russisches Gas bezogen wird. Wie beziehungsweise ob das russische Gas vor dem Winter des nächsten Jahres ersetzt werden kann, um die Speicher wieder zu füllen, ist völlig unklar. Das Thema Gasrationierung könnte also bald wieder auf den Tisch kommen, ein Problem, das die USA nicht haben.

Zykliker im Blick

Für die kommenden Monate sollte angesichts der sich anbahnenden Rezession und der zu erwartenden Abwärtsrevisionen der Unternehmensgewinne eine eher defensivere Ausrichtung angesagt sein, d. h. Anlagen in Branchen wie Healthcare und Konsumgüter des alltäglichen Bedarfs. Darüber hinaus bieten auch Absicherungen über Derivate eine Möglichkeit, sich gegen etwaige Volatilitätsschübe beziehungsweise Rückschläge zu wappnen. Zyklische Bereiche sollten aber im Blick behalten werden, da Aktienmärkte generell und Zykliker im Besonderen üblicherweise bereits einige Zeit vor dem Erreichen des Tiefs in der konjunkturellen Entwicklung nach oben drehen beziehungsweise in die Outperformance übergehen.

Aktienanlagen sollten allerdings in erster Linie langfristig ausgerichtet sein und damit weitgehend losgelöst von kurz- bis mittelfristigen Perspektiven und Erwägungen. Es ist davon abzuraten, sich in der Hoffnung auf einen noch besseren Einstiegszeitpunkt weitgehend oder gar ganz aus dem Markt rauszuhalten. Timing ist eine kaum zu beherrschende Übung, und Studien haben zudem gezeigt, dass Anleger, die in Krisenphasen nicht investiert sind, Gefahr laufen, die Handelstage mit den höchsten Kursgewinnen zu verpassen. Gerade aufgrund der niedrigen Bewertungen in Europa können aus langfristiger Sicht schon jetzt Engagements eingegangen werden. Erst recht gilt dies für in den kommenden Monaten zu erwartende Marktkorrekturen.

Langfristige Trends

Ein sinnvoller Ansatz ist das Investieren in die Aktien von Unternehmen, die von hohe Wachstumsraten versprechenden langfristigen Megatrends profitieren. Unter diesem Begriff findet man zwar allerlei fragwürdige und bisweilen auch recht kurzlebige Modethemen, um die man besser einen weiten Bogen machen sollte, um empfindliche Verluste zu vermeiden. Aber es gibt durchaus gut abschätzbare, sichtbare Langfristtrends. Dazu zählt beispielsweise die Bekämpfung der Erderwärmung, in die in den kommenden Jahrzehnten gigantische Summen investiert werden. Das bedeutet Anlagechancen in Segmenten wie etwa erneuerbare Energien, elektrisch betriebene Fahrzeuge, Ladesäulen, für die ökonomische Transformation benötigte Rohstoffe und sonstige Zulieferungen etc. Chancen ergeben sich ferner aus demografischen Trends. Die Alterung der Bevölkerung bedeutet erhebliches Wachstumspotenzial für Unternehmen, die entsprechende Ge­sundheitsfürsorgeprodukte anbieten. Durch den Renteneintritt der Babyboomer verknappt sich das Arbeitskräfteangebot, was außerdem zur Folge hat, dass sich der Lohnkostendruck verstärkt. Das erhöht den Automatisierungsdruck auf die Unternehmen, woraus sich Anlagechancen in den Themen Automatisierung, Robotik, Software, Digitalisierung etc. ergeben.

Von Christopher Kalbhenn, Frankfurt

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