Im Interview:Gabriel Felbermayr

„Der Staat hat einen größeren Finanzspielraum, als er vorgibt“

Der Direktor des Wiener Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, Gabriel Felbermayr, über die Gefahr immer weiter steigender Staatsschulden, die Ausgestaltung der Schuldenbremse und mögliche Auswege aus Überschuldungssituationen.

„Der Staat hat einen größeren Finanzspielraum, als er vorgibt“

Im Interview: Gabriel Felbermayr

"Verschuldung ist politisch attraktiv"

Wifo-Direktor: Der Staat hat mehr Finanzspielraum, als er vorgibt – Monetarisierung der Schulden in Notenbankbilanzen erhöht Risiko von Inflationskrisen

Der Direktor des Wiener Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo über die Gefahr immer weiter steigender Staatsschulden, die Ausgestaltung der Schuldenbremse, mögliche Auswege aus Überschuldungssituationen, und zu Gründen, dem EU-Parlament mehr Budgetrechte einzuräumen, um glaubwürdiger in künftigen Euro-Schuldenkrisen zu sein.

Herr Prof. Felbermayr, in der Debatte über die Schuldenbremse stehen sich zwei ökonomische Schulen gegenüber: jene, die diese reformieren oder aussetzen wollen, um über schuldenfinanzierte Investitionen das künftige Wachstum zu sichern oder gar zu steigern. Und jene, die meinen, der Staat bekomme schon genügend Geld, müsse es nur besser verteilen, zumal jede Schuldenaufnahme heute eine Belastung für die Generation von morgen sei. Zu welcher Schule würden Sie sich da eingruppieren? Und warum?

Mit „Schulen“ habe ich meine Probleme. Zumal es einfache Lösungen auf komplexe Fragen oft nicht gibt. Ich bin überzeugt, es braucht eine Schuldenbremse, aber sie gehört reformiert, so dass der Ausbau des öffentlichen Nettokapitalstocks schuldenfinanziert erfolgen kann. Ich bin aber auch überzeugt, dass die Staatsquote zu hoch ist und die öffentliche Hand mehr finanzielle Spielräume hat, als sie vorgibt, wenn sie nur bereit wäre, Prioritäten zu setzen.  

Es gibt immer genügend Wählerinnen und Wähler, die höhere Staatsschulden einer höheren Steuerlast oder geringeren Sozialleistungen vorziehen.

Die Schuldenlast ist bislang nur in kurzen Perioden wieder etwas zurückgegangen. Das meiste hat dazu obendrein die Inflation beigetragen. Warum glauben die Menschen den Schuldenabbau-Versprechungen der Politik trotzdem immer wieder?

Verschuldung ist politisch attraktiv, weil sie scheinbar erlaubt, die Belastungen für die Ausdehnung staatlicher Aktivitäten auf zukünftige Generationen zu verlagern, die aktuell noch nicht wählen dürfen. Es gibt wohl auch immer genügend Wählerinnen und Wähler, die höhere Staatsschulden einer höheren Steuerlast oder geringeren Sozialleistungen vorziehen.


Der Interviewte: Gabriel Felbermayr ist seit Oktober 2021 Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo) in Wien sowie Universitätsprofessor an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Zuvor machte sich der 47-jährige Österreicher in Deutschland unter anderem als Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW Kiel) und Leiter des Ifo-Zentrums für Außenwirtschaft am Ifo-Institut in München einen Namen in der Wirtschaftsforschung.


Ein ganzes ökonomisches Theoriegebäude – die Modern Monetary Theory (MMT) – hat sich der These verschrieben, dass mehr Schulden letztendlich gut sind für Staat und Gesellschaft. Wie kommt man darauf? Und wie ordnen Sie das ein?

Ich bin kein Fan dieser Theorie. Deren Idee ist, dass eine unterausgelastete Volkswirtschaft durch schuldenfinanzierte Staatsausgaben zur Vollauslastung gebracht werden kann und dass dies grenzenlos möglich ist, weil die Staatsschulden von der Notenbank garantiert werden. Überschießt die Nachfragestimulierung und kommt es zu Inflation, dann sollen gemäß der Theorie die Steuern erhöht werden, um durch Reduktion der privaten Nachfrage die Inflation wieder einzudämmen. Das Problem mit dieser vulgärkeynesianischen Theorie ist, dass sie kaum auf den aktuellen Kontext anzuwenden ist. Die meisten Volkswirtschaften der EU sind nicht unterausgelastet, vor allem Deutschland nicht, wo die Arbeitslosigkeit sehr niedrig ist. Außerdem ist die Theorie nicht kompatibel mit einer unabhängigen Zentralbank.

Es sind eher verteilungspolitische Konflikte als die makroökonomische Schuldentragfähigkeit, die dem Schuldenmachen Grenzen setzen.

Es scheint eine Art Naturgesetz zu sein: Die Staatsverschuldung nimmt weltweit immer weiter zu – ein Zurück scheint undenkbar. Wie viel Verschuldung können die Staaten eigentlich noch (er)tragen?

Das lässt sich quantitativ nicht so leicht sagen; verschiedene Versuche in der Forschung, allgemeingültige Grenzwerte zu finden, sind gescheitert. Japan hat mit einer Staatsverschuldung von über 260% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) kein großes Problem. Die meisten Entwicklungsländer stoßen aber schon bei einem Schuldenstand von unter 50% an massive Grenzen. Dazu kommt, dass die private Verschuldung von Volkswirtschaften ein mindestens ebenso großes Problem darstellen kann. Die Frage ist eher: Wie viel Verschuldung wollen die jüngeren Generationen ertragen? Es sind eher verteilungspolitische Konflikte als die makroökonomische Schuldentragfähigkeit, die dem Schuldenmachen Grenzen setzen.

Gibt es – analog zur Klimatheorie – einen systemischen Kipppunkt, ab dem die Verschuldung dann zwangsläufig aus dem Ruder läuft?

Auf Finanzmärkten geht es immer um Vertrauen in die zukünftige Zahlungsfähigkeit eines Schuldners. Bricht dieses, aus welchem Grund auch immer, dann kommt es zu einer Schuldenkrise, weil der Staat die bestehenden Schulden nicht mehr bedienen kann. Vertrauenskrisen können sehr abrupt auftreten. Und weil Gläubiger versuchen, vor der tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners ihre Forderungen zu reduzieren, kann es zur Krise kommen, bevor die ökonomischen Fundamentalvariablen diese erzwingen. Das passiert allerdings nur dann, wenn der Staat sich in Währung verschuldet, die er nicht selbst herausgibt.

Wenn Notenbanken Staatsschulden aufkaufen, hält das die Staaten zwar liquide, aber es kann leicht zu Inflationskrisen führen.

Schulden sind aber letztlich ja auch nur Bilanzposten, die man auch verschieben kann. Viele Notenbanken zeigen das exemplarisch, indem sie Staatsschulden immer wieder aufkaufen. Wäre das ein Weg, um einen eigentlich nötigen Schuldenschnitt zu vermeiden?

Dieser Mechanismus hält die Staaten nur liquide, so dass sie stets zahlungsfähig bleiben. Das kann eine Weile funktio-
nieren.

Also auf jeden Fall nicht dauerhaft. Und was wären die Konsequenzen daraus für die Volkswirtschaften?

Die Monetarisierung von öffentlichen Defiziten kann leicht zu Inflationskrisen führen. Daher ist der direkte Aufkauf von Staatsschulden im Eurosystem eigentlich verboten.

Werden öffentliche Defizite in der Notenbankbilanz versteckt, verschwinden die Schulden zwar formal, aber die damit verbundenen realwirtschaftlichen Ansprüche verbleiben im System.

Einmal auf der Notenbankbilanz, könnten diese die in die Bilanz aufgenommenen Staatsschulden ja aber auch einfach stilllegen. Quasi eine Art stiller Währungsschnitt ...

Das hilft den Finanzministern, aber nicht den Volkswirtschaften. Die Schulden verschwinden nur formal, aber die damit verbundenen realwirtschaftlichen Ansprüche verbleiben natürlich im System. Wie auch immer Staatsschulden genau monetarisiert werden, die Gefahr von Inflationskrisen bleibt immer bestehen.

Wenn wir in die Geschichte zurückblicken, gab es regelmäßig einen Neuanfang wegen Überschuldung. Ist das unausweichlich?

Solche Episoden waren fast immer mit massiven ökonomischen und politischen Krisen verbunden, die enorme volkswirtschaftliche Kosten mit sich brachten. Es muss also das Ziel der Wirtschaftspolitik sein, solche Umstände unbedingt zu vermeiden. Daher ist eine vernünftige, regelgebundene Budgetpolitik so ungemein wichtig.

Schuldenregeln in der EU nach den jüngsten Plänen im Dezember 2023.

In den USA wurde einst ein Mechanismus gefunden: Die Bundesstaaten wurden zu Beginn der Republik vom Bund einmal entschuldet und dürfen seither kategorisch keine neuen Schulden machen. Ein Weg auch für einen Neuanfang der Eurozone?

Ja, das wäre eine Option. Die Frage ist aber immer, ob man einen Bail-out in der Krise auch wirklich glaubwürdig ausschließen kann. Das geht in den USA nur, weil es neben den Bundesstaaten auch einen Gesamtstaat mit einem großen Budget gibt, der die Funktion des Gemeinwesens selbst in einem bankrotten Bundesstaat garantieren kann. In der EU ist diese Bedingung nicht gegeben. Will man den US-Weg gehen, müsste man das zentrale Budget größenordnungsmäßig deutlich ausweiten und dem EU-Parlament Budgetrechte geben.


Die Fragen stellte Stephan Lorz.

Das Interview führte Stephan Lorz.