Geldpolitik

EZB schafft Negativzins ab

Wetten über die Höhe der ersten Leitzinserhöhung seit elf Jahren hielten sich die Waage – nun hat der EZB-Rat entschieden. Sein Doppelbeschluss umfasst zudem ein neues Notfallinstrument für die Staatsanleihemärkte.

EZB schafft Negativzins ab

Die Europäische Zentralbank (EZB) hebt die Leitzinsen gleich zum Auftakt ihrer Zinswende um einen halben Prozentpunkt an. Die vom EZB-Rat am Donnerstag beschlossene Zinserhöhung ist die erste im Euroraum seit elf Jahren – und das Ende der Negativzinsen für Banken. Der EZB-Rat hat darüber hinaus ein neues Notfallinstrument für Anleihekäufe genehmigt. Es soll verhindern, dass die Staatsanleiherenditen der Euro-Länder stark auseinanderlaufen, und vor allem hochverschuldete Länder wie das in eine Regierungskrise gestürzte Italien an den Finanzmärkten stützen.

Dass der EZB-Rat seine historische Zinswende beginnen würde, galt vor dem Hintergrund der Rekordinflation als ausgemachte Sache – nicht aber die Höhe des ersten Zinsschritts. Unmittelbar vor den Beschlüssen hielten sich am Markt Spekulationen über einen Schritt um 25 oder 50 Basispunkte die Waage. Berichten zufolge wurde auf den letzten Metern auch innerhalb der EZB trotz anderslautender Ankündigung im Juni über einen großen Schritt gleich zum Auftakt debattiert. Analysten rechneten indes bis zuletzt mehrheitlich mit einer kleinen Zinserhöhung. Hochrangige Ökonominnen und Volkswirte um Lars Feld, Wirtschaftsberater von Finanzminister Christian Lindner (FDP), drangen in einer Umfrage der Börsen-Zeitung auf mehr. Für zusätzliche Nervosität sorgte die konkrete Ausgestaltung des angekündigten „Antifragmentierungsinstruments“ für mögliche neue Anleihekäufe.

Seinen Beschluss, das ursprünglich erst für September avisierte Ende des Negativzinses vorzuziehen, begründet der EZB-Rat mit einer „aktualisierten Beurteilung der Inflationsrisiken“. Er stellt weitere Zinserhöhungen in Aussicht, ohne eine Größenordnung zu nennen. In der Pressemitteilung zu den Beschlüssen heißt es: „Durch das heutige Vorziehen des Ausstiegs aus den Negativzinsen kann der EZB-Rat zudem zu einem Ansatz übergehen, bei dem Zinsbeschlüsse von Sitzung zu Sitzung gefasst werden“.

Mit dem Doppelbeschluss zu Zinserhöhung und neuem Instrument versucht der EZB-Rat einen Spagat: Einerseits soll die bislang sehr zaghafte Normalisierung der Geldpolitik nun auch verstärkt in steigenden Leitzinsen münden – zumal sich das Inflationsumfeld immer weiter verschlechtert. Die Teuerung in Euroland übertrifft weiter alle Erwartungen und liegt mit dem Rekordhoch von 8,6% mehr als vier Mal höher als das mittelfristige EZB-Inflationsziel von 2%. Zudem breitet sie sich immer mehr in der Wirtschaft aus und sie droht sich zusehends über eine Entankerung der Inflationserwartungen und eine Lohn-Preis-Spirale dauerhaft zu verfestigen.

Italien an Finanzmärkten unter Druck

Andererseits soll mit dem neuen „Backstop“ für die Euro-Staaten verhindert werden, dass hoch verschuldete Staaten im Zuge der Zinswende in schwere Finanzierungsnöte geraten. Im besonderen Fokus steht Italien, das zu allem Überfluss in eine schwere Regierungskrise geschlittert ist. Am Donnerstagvormittag trat der Ministerpräsident und frühere EZB-Chef Mario Draghi zurück. Die Rendite zehnjähriger italienischer Staatsanleihen stieg daraufhin auf ein Drei-Wochen-Hoch von 3,62%. Im Frühsommer hatte die Italien-Rendite erstmals seit 2014 die 4-Prozent-Marke durchbrochen. Der EZB-Rat hielt daraufhin kurzfristig eine Sondersitzung ab, auf der er den nun genehmigten „Transmission Protection Mechanism“ (TPM) auf den Weg brachte. Mit Transmission meint die EZB die einheitliche Wirkung ihrer Geldpolitik im gesamten Euroraum.

EZB-Entscheid, Italien-Krise, Sorgen um Europas Gasversorgung – dieser Dreiklang hielt Anleger am Donnerstag in Atem. „Ein Tag wie kein anderer für den Euro“, titelten die Devisenmarktexperten der niederländischen Bank ING. Der Euro war kürzlich erstmals seit zwei Jahrzehnten auf Parität zum Dollar gefallen. Mit Spannung erwartet wurde daher auch, wie die EZB und ihre Präsidentin Christine Lagarde darauf reagieren würden. Ein schwacher Euro droht die sehr hohe Inflation weiter anzufachen, weil Importe sich verteuern. Vor allem Energielieferungen werden häufig in Dollar abgerechnet.

Kritik hochrangiger Ökonomen

Der frühere Wirtschaftsweise Volker Wieland sagte der Börsen-Zeitung: Die Abwertung des Euro verdeutliche, „dass die EZB-Politik weiterhin sehr expansiv ist und dringend gestrafft werden muss“. Das bisherige Vorgehen der EZB bezeichnet Wieland als „zu wenig zu spät“. Auch Lindner-Berater Feld, einst Kollege Wielands im Rat der Wirtschaftsweisen, kritisiert die Notenbank: „Die EZB muss Geldwertstabilität gewährleisten. Bei Inflationsraten über 8% verfehlt sie dieses Ziel derzeit in erheblichem Maße. Feld forderte die EZB auf, die Zinsen selbst auf Kosten einer Rezession zu erhöhen – „angesichts der hohen Inflationsraten in Schritten von 50 Basispunkten.“

Im internationalen Vergleich gehört die EZB in Sachen Zinserhöhung und Normalisierung zu den Nachzüglern. Weltweit straffen Zentralbanken vor allem in den Industrieländern seit Monaten ihre Geldpolitik in einem Tempo wie seit Jahrzehnten nicht – wegen der vielerorts viel zu hohen Inflation. Als wichtigste Zentralbank der Welt gibt die US-Notenbank Fed den Takt vor. Seit März hat sie ihren Leitzins um 150 Basispunkte angehoben. Nächste Woche wird eine weitere Erhöhung um 75 oder sogar 100 Basispunkte erwartet. Zugleich hat sie mit dem Abbau ihrer aufgeblähten Bilanz begonnen. Ein solcher Gleichklang aus Zinserhöhungen und Bilanzabbau ist außergewöhnlich.

Die EZB begründet ihre Zurückhaltung damit, dass das Inflations- und Konjunkturumfeld im Euroraum ein anderes sei als etwa in den USA. Tatsächlich stehen auch weltweit viele Zentralbanken vor einem Dilemma aus zu hoher Inflation und Rezessionsängsten. In der Abwägung entscheiden sich viele Notenbanken für den Kampf gegen die hohe Teuerung – auch aus Sorge um die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik. Im Juni räumte EZB-Chefin Christine Lagarde in einem bemerkenswerten Schwenk ein „großes Problem“ mit der Inflation ein. Seitdem stehen anhaltende Sorgen um das Wachstum in der Eurozone hintan.

In der zunehmend kontroversen Diskussion über die globale Geldpolitik hat die Zentralbank der Zentralbanken BIZ unlängst klar Stellung bezogen. Trotz zunehmender Sorgen vor einer globalen Rezession müsse es jetzt für die Notenbanken oberste Priorität haben, die Inflation wieder unter Kontrolle zu bringen. Das Risiko, dass die Weltwirtschaft erneut in eine Phase von hoher Inflation eintrete, sei real, so die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem jährlichen Wirtschaftsbericht.

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