Christian Keller, Barclays

„Zentralbanker suchen Zuflucht in der ,Herde‘ “

Im Interview spricht der Chefvolkswirt der britischen Großbank Barclays, Christian Keller, über die weltweit hohe Inflation, die Reaktion der Geldpolitik und die Angst der Zentralbanker vor Politikfehlern.

„Zentralbanker suchen Zuflucht in der ,Herde‘ “

Herr Keller, weltweit straffen die Zentralbanken wegen der hohen Inflation ihre Geldpolitik. Zugleich wächst die Sorge vor einem Ab­schwung der Weltwirtschaft, gar einer globalen Rezession – infolge des Ukraine-Kriegs und der neuen Lockdowns in China. Können die Währungshüter gerade überhaupt das Richtige tun?

Die Situation für die Zentralbanker weltweit ist sicher nicht angenehm. Die Zentralbanken, die EZB eingeschlossen, können die historisch hohen Inflationsraten aber einfach nicht mehr ignorieren. Denn die Inflation wird für den Rest des Jahres sehr hoch bleiben, und auch der allgemein erwartete Rückgang der Inflationsraten im nächsten Jahr ist nicht garantiert. Das gilt insbesondere dann, wenn in den kommenden Quartalen als Reaktion auf die in­flationsbedingten Realeinkommensverluste dann auch die Löhne stark ansteigen.

Tatsächlich wächst die Sorge vor einer Lohn-Preis-Spirale – vor allem in den USA, aber auch im Euroraum. Das zu verhindern hat aktuell also Priorität, nicht die schwächelnde Wirtschaft?

Derzeit werden die Zentralbanken für die hohe Inflation in die Verantwortung genommen; das Wachstum ist noch nicht eingebrochen und die Arbeitslosigkeit sehr niedrig. Das kann sich noch ändern, aber aktuell hat die Inflationsbekämpfung Priorität. Wenn die tatsächliche Inflation das offizielle Inflationsziel um ein Mehrfaches übersteigt, dann sind die typischen „Reaktionsfunktionen“ der Zentralbanken der vergangenen zehn bis zwölf Jahre obsolet. Sie müssen handeln.

Und das gilt auch für die Europäische Zentralbank (EZB), die lange Zeit trotz Rekordinflation eher zögerlich war, aber jetzt auch auf eine schnelle Zinswende zu­steuert?

In den vergangenen Wochen haben Zentralbanken rund um den Globus damit begonnen, das Tempo der geldpolitischen Straffung zu be­schleunigen. Bei einigen war das erwartet worden, wie bei der US-Notenbank Fed, der Bank of England oder auch den Zentralbanken in Norwegen und Brasilien. Viele überraschten aber auch mit größeren Schritten, etwa Australien, Indien, Chile und Tschechien. Bei der EZB überraschten wichtige Mitglieder des EZB-Rates mit Kommentaren, die stark auf eine erste Zinserhöhung im Juli hindeuten. Und das trotz der sich derzeit eigentlich gerade verschlechternden Aussichten für die Wirtschaft des Euroraums. Aber auch die EZB kann die hohe Inflation und das Anziehen der Inflationserwartungen nicht mehr ignorieren.

Sind die Sorgen denn begründet, dass steigende Zinsen die Euro-Konjunktur ausbremsen?

Natürlich kann das einen etwas dämpfenden Effekt haben, aber das sollte man bei maßvollen Zinserhöhungen auch nicht übertreiben. Und umgekehrt wird auch ein Schuh daraus: Die Untätigkeit der EZB bei den kurzfristigen Geldzinsen hilft auch nur begrenzt den so wichtigen längerfristigen Renditen der Staatsanleihen im Euroraum. Denn Letztere klettern bereits zusammen mit den US-Renditen in die Höhe, und der mögliche Eindruck, die EZB sei handlungsunfähig bei den Leitzinsen, kann zwar die Erwartungen an zu­künftige geldpolitische Zinsschritte beschränken, aber gleichzeitig auch die verlangten Risikoaufschläge er­höhen. So steigen die langfristigen Zinsen, wenn Investoren die Sorge haben, dass die EZB die Inflation nicht ausreichend angeht.

Interessanterweise erwähnen die Euro-Hüter zuletzt verstärkt auch den Euro-Wechselkurs, weil ein schwacher Euro im Vergleich zum Dollar etwa die Importpreise erhöht und damit die Inflation weiter befeuert.

Die Währungen spielen im aktuellen Kontext auch eine entscheidende Rolle. Ein immer stärkerer Dollar – in dem ja auch global Rohstoffe gehandelt werden – bedeutet für Nicht-Dollar-Länder höhere Importpreise. Normalerweise ist das in erster Linie ein Problem von Zentralbanken in Schwellenländern, aber in der derzeitigen Situation ist es auch ein Faktor, den die EZB nicht vernachlässigen kann. Eine sich immer weiter erhöhende Zinsdifferenz zur Fed könnte den Euro immer weiter schwächen und so die Inflation – die in Europa ja stark von der importierten Energie erzeugt wird – weiter antreiben. Außerdem fühlt sich die EZB sicher auch wohler damit, mit der „Herde“ in Richtung Straffung der Geldpolitik zu ziehen.

Wie meinen Sie das genau?

Wie gesagt, derzeit ist das Wachstum noch stark und die Arbeitslosigkeit niedrig. Doch wenn sich das ändert, kann sich die Stimmung dann auch wegen vermeintlicher Fehler bei der Geldpolitik gegen die Zentralbanken richten. In einer solchen Situation können auch Zentralbanker Zuflucht in der „Herde“ suchen: Wenn alle anderen auch die Leitzinsen anheben, steht man nicht ganz so alleine da, wenn die Kritiker plötzlich „Politikfehler“ konstatieren. Es ist somit sicher auch kein Zufall, dass sich die Einsicht in die Notwendigkeit schnellerer Zinsschritte derzeit zugleich weltweit unter den Zentralbankern verbreitet.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.