Sanktionen

Wie Russland an alle wichtigen Importgüter gelangt

Russland hat es bislang vermocht, trotz aller Sanktionen des Westens ein „wesentliches Importvolumen“ zu erhalten – durch neue Lieferanten, neue Logistikrouten und durch Schleichwege, um verbotene elektronische Bauelemente trotzdem zu erhalten.

Wie Russland an alle wichtigen Importgüter gelangt

Sanktionen einzuführen ist das eine. Sie effizient umzusetzen, das andere. Gerade ein großes Land lässt sich schwer isolieren, wie sich heute feststellen lässt. Dass Russlands Wirtschaft im vergangenen Jahr keine dramatischen Einbußen erlebt hat und auch die Rüstungsindustrie die nötigen Hightech-Bestandteile bekommen hat, liegt auch daran, dass ein weit verzweigtes, neues Importsystem etabliert worden ist. Wie funktioniert es?

Während der Westen das ganze vergangene Jahr hindurch ständig neue Strafmaßnahmen gegen Russland verkündete, so dass die Sanktionen letztendlich in ihrem Ausmaß jegliche frühere Strafpakete gegen ein Land übertrafen, wurde geflissentlich übersehen, dass Russland groß, die Welt komplex und die Auswirkung der Strafmaßnahmen überschaubar sind. Gewiss, das Land hat im vergangenen Jahr sehr wohl einen Rückgang der Wirtschaftsleistung erlitten. Aber mit einem Minus zwischen 2,5 % und 3,5% – das ist die Spanne, die von Ökonomen prognostiziert wird – fiel dieser Rücksetzer deutlich geringer aus als ursprünglich erwartet.

Das jüngste Embargo auf Öl und Ölprodukte, Russlands wichtigste Exportgüter, wiederum könnte zwar tatsächlich noch zu empfindlichen Einbußen bei den Exporteinnahmen führen. Aber Russland hat seit Kriegsbeginn bis zum heutigen Tag mit dem Export dieser und anderer Rohstoffe preisbedingt blendend verdient. Zumal die besonnene Reaktion der russischen Zentralbank dazu beigetragen hat, einen schweren Schock abzuwenden.

Nichtsdestotrotz erklärt das allein noch nicht, warum die russische Wirtschaft unter den schwierigen Bedingungen vergleichsweise gut weggekommen ist und weitgehend glatt weiterläuft. Vielmehr ist etwas geschehen, womit so nicht gerechnet worden war: Der russische Import, den der Westen massiv beschränken wollte, lief allem Anschein deutlich reibungsloser und in größerem Umfang als erwartet. Und das gilt nicht nur für einfache Waren des täglichen Gebrauchs, sondern auch für Produkte der Hochtechnologie. Die jüngste Schätzung der russischen Zentralbank ergab, dass sich der Import von Waren und Dienstleistungen im vergangenen Jahr auf 346 Mrd. Dollar addierte. Das ist ein Wert, der gerade einmal 9 % niedriger liegt als zwölf Monate zuvor.

Dabei hatten die westlichen Sanktionen und der freiwillige Rückzug westlicher Unternehmen aus dem Land in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn Ende Februar 2022 für einen Schock – oder zumindest für große Unsicherheit – gesorgt. Der Rubel, der vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine bei 85 Rubel je Euro notiert hatte und dessen Absturz erst am 11. März mithilfe der Zentralbank-Interventionen beim Jahrestiefststand von 132,95 Rubel gestoppt werden konnte, begann anschließend überraschend schnell auf 54 Rubel aufzuwerten. Der Grund dafür neben den Kapitalmarktinterventionen: Geld aus dem Rohstoffexport war massenweise vorhanden. Nur der Import war zusammengebrochen.

Doch so rasch, wie diese Schieflage eingetreten war, so rasch begann sie auch wieder zu verschwinden. „Ein wesentliches Importvolumen blieb erhalten“, erklärte dieser Tage Anton Swiridenko, Direktor des Moskauer Stolypin-Instituts für Wirtschaftswachstum, gegenüber dem Wirtschaftsmedium RBK. Wenn man wolle, so erläuterte Swiridenko, habe man fast alles zu kaufen bekommen.

Damit das möglich wurde, mussten viele Seiten zusammenspielen. An vielen Schrauben musste gedreht werden. Da waren unter anderem jene Länder, die zwar eine großflächige Verletzung der Sanktionen vermieden, um nicht etwa Sekundärsanktionen seitens des Westens auf sich zu ziehen, die aber doch keine Isolierung Russlands wollten und umso mehr die vorteilhafte Gelegenheit für sich am Schopf packten. Eine Studie zum Außenhandel von fast 100 Staaten, durchgeführt von der renommierten US-amerikanischen NGO Silverado Policy Accelerator, ergab, dass einige wenige Staaten ihren Handel mit Russland deutlich erhöht haben – und zwar indem sie zur Drehscheibe für westliche Waren geworden sind, die auf direktem Weg nicht mehr in Wladimir Putins Staat gelandet wären.

So hat beispielsweise die Volksrepublik China eigenen Zolldaten zufolge im Vorjahr den Export nach Russland um 12,8 % auf 76,1 Mrd. Dollar gesteigert. Belarus wiederum hat laut Premierminister Roman Golowtschenko den Export in sein Nachbarland von 16,4 Mrd. Dollar (2021) auf 22 Mrd. bis 23 Mrd. Dollar erhöht. Die Daten der Türkei für die ersten elf Monate 2022 ergeben einen Zuwachs um 54 % auf 8 Mrd. Euro, für Kasachstan um 24 % auf 7,8 Mrd. Euro. Bei anderen zentralasiatischen Staaten oder Armenien lässt sich eine ähnliche Tendenz feststellen.

Nicht nur diese und andere Länder haben sich als neue Logistikhubs etabliert, nachdem Europa die direkten Lieferwege gekappt hatte. Auch die russischen Unternehmen haben sich als unerwartet flexibel erwiesen und sich gerade im Logistiksektor engagiert. Um 11,1 % wurden hier die Investitionen gegenüber 2021 erhöht, wie Daten der Zentralbank zeigen.

Der Staat half seinerseits kräftig mit. Und zwar gar nicht so sehr durch finanzielle Unterstützung als vielmehr durch eine Lockerung der bestehenden Regeln. Bereits am 30. März 2022, also einen Monat nach Kriegsbeginn, hat Premierminister Michail Mischustin jene wichtige Verfügung unterzeichnet, mit der der sogenannte Parallelimport erlaubt wurde. Am 6. Mai 2022 publizierte das russische Handelsministerium eine Liste der nötigen internationalen Originalwaren, die fürderhin – also nach dem ersten Verkauf in einem beliebigen Land – ohne Zustimmung der Produzenten oder Rechtsinhaber nach Russland importiert werden durften.

Ende Dezember ließ der Chef des russischen Zollamtes wissen, dass seit Mai Waren im Gesamtwert von mehr als 20 Mrd. Dollar allein durch den Parallelimport ins Land gekommen seien: „Das sind vor allem Autos, Werkzeugmaschinen, Anlagen, Verfahrenslinien, aber es gibt auch Waren der Leichtindus­trie.“

Viele Aspekte hätten zusammengespielt, damit der Import wieder funktioniere, schreibt Silverado Policy Accelerator: Neben dem Parallelimport sowie dem Aufbau neuer Lieferanten und Logistikrouten zählten dazu auch die Implementierung neuer Zahlungsmechanismen und vermehrte Transaktionen in Währungen wie dem chinesischen Yuan. Und so komme es, dass selbst Halbleiter und Mikrochips weiter nach Russland gelangten und gelangen – wenn auch tatsächlich in einem bedeutend geringeren Volumen als in den Jahren vor 2022.

Und dennoch ist das Augenmerk des Westens vor allem darauf gerichtet, finden die Hightech-Komponenten doch auch in der russischen Rüstungsindustrie Verwendung. Mehr noch: Die Waffenschmieden sind auf diese Komponenten angewiesen, weil alle Versuche, nach der Krim-Annexion 2014 eine unabhängige, eigene Produktion dafür aufzubauen, gescheitert sind, wie das Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) im Dezember darlegte.

Wie das Forschungsinstitut bereits im August und diverse andere Untersuchungen – etwa vom britischen Conflict Armament Research (CAR) – zeigten, verbaut Russlands Rüstungsindustrie nach wie vor Hunderte westliche und asiatische Erzeugnisse der Mikroelektronik, von denen viele seit 2014 auf der Sanktionsliste stehen. Mehr noch: Russland habe allem Anschein nach in diesen Jahren gezielt einen Vorrat der wichtigsten Komponenten angelegt. Und einer Analyse der Nachrichtenagentur Reuters zufolge hat Russland allein in den ersten sieben Monaten des vergangenen Jahres elektronische Bauteile im Wert von 2,6 Mrd. Dollar importiert, mindestens 777 Mill. Dollar entfielen dabei den Angaben zufolge auf westliche Unternehmen.

Nicht nur die Geografie der Routen für diesen speziellen Handel ist dabei auffällig, hat doch China zu Ungunsten der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union 80 % Marktanteil in Russland erreicht – so hat es eine Recherche von Reuters gemeinsam mit dem Forschungsinstitut RUSI ergeben. Auch die Methoden, um an diese Hightech-Bauteile zu kommen, seien bemerkenswert. Zum einen nämlich finde deren ganz gewöhnlicher Import statt, der nur dadurch verschleiert werde, dass Russlands Zoll seit April keine detaillierte Statistik mehr publiziere: 15000 Transaktionen von elektronischen Bauteilen der Firmen AMD, Analog Devices, Infineon, Intel und Texas Instruments habe man trotzdem rekonstruieren können, meldet die Nachrichtenagentur Reuters. Zum anderen werden die für die Rüstung nötigen elektronischen Bauteile zum Teil auch aus Alltagsgeräten wie Geschirrspülmaschinen oder Kühlschränken bezogen, sprich: Sie werden ausgebaut.

Darauf ist nicht nur der Rüstungssektor angewiesen. Von der sogenannten Kannibalisierung leben zunehmend beispielsweise auch die Fluglinien. Aktuell erhalte er noch genügend Ersatzteile aus dem Ausland, sagte kürzlich der Chef der führenden Fluglinie Aeroflot, Sergej Alexandrowski in einem Interview – wenn auch mit längeren Lieferzeiten und zu höheren Preisen.

Die russische Regierung hat im Dezember erlaubt, dass die einheimischen Linien einen Teil ihrer westlichen Flugzeugmodelle zerlegen und als Ersatzteillager verwenden können. Der Zeitung „Nowyje Iswestija“ zufolge haben die großen Fluglinien deshalb bereits 15 % bis 30 % ihrer westlichen Modelle zur Kannibalisierung stillgelegt.

Von Eduard Steiner, Moskau