Unterm Strich

Zeit, die Gelegen­heiten zu ergreifen

Viele Vorstände und Aufsichtsräte wollen in der aktuellen Krisenzeit vor allem keine Fehler machen. Dabei müssten sie gerade jetzt beherzt die Zukunft gestalten – etwa bei den Megathemen Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

Zeit, die Gelegen­heiten zu ergreifen

Krieg in der Ukraine, Rezessionsgefahr, galoppierende Inflation, Kurssturz an den Finanzmärkten – es gibt viele Gründe, das Glas gegenwärtig eher halb leer als halb voll zu sehen. Die Krise scheint zum Dauerzustand geworden zu sein, die Disruption zum ständigen Begleiter von Gesellschaft und Wirtschaft. Dass gerade in solchen Zeiten auch große Chancen liegen, ist mehr als ein netter Kalenderspruch. Sie zu erkennen und zu nutzen ist eine Frage der Einstellung. Ist von Unternehmern und Managern, bei denen das Klagen zum Gruß des Kaufmanns gehört, zu erwarten, dass sie die Chancen der Transformation, der Gestaltung nachhaltiger Geschäftsmodelle und der Digitalisierung ergreifen?

Aufsichtsräte als Vordenker?

Wenn man beispielsweise die vielen klugen Reden von Aufsichtsrats- und Vorstandsvorsitzenden in der zurückliegenden Hauptversammlungssaison einem Realitätscheck unterzieht, kehrt Ernüchterung ein. Viele Vorstände und Aufsichtsräte starren in dieser Zeit der Unsicherheit auf die Politik, auf Regulierungs- und Aufsichtsbehörden, um ja keine Fehler zu machen, anstatt beherzt die Zukunft zu gestalten. Die gerade hierzulande ausgeprägte Risikoaversion spiegelt sich in der Führung von Unternehmen, im Zusammenspiel von Vorstand und Aufsichtsrat. Die Arbeit vieler Aufsichtsräte ist vor allem haftungsgetrieben anstatt unternehmerisch getrieben. Das deutsche und inzwischen auch europäische Gesellschaftsrecht, so viel muss man zur Ehrenrettung des Führungspersonals einräumen, hat diese Entwicklung noch forciert. Insofern war das Thema einer Tagung der Financial Experts Association (FEA) dieser Tage mit dem Titel „Aufsichtsräte als Vordenker und Pioniere“ eher Wunschvorstellung und Vision denn Momentaufnahme.

Nachhaltigkeit im Fokus

Die gesetzlichen Rahmenwerke und ihre Entstehung sind zu sehr geprägt von der Debatte über Verhinderung von Missbrauch als vom Bestreben, die Angebotsbedingungen der Wirtschaft zu verbessern und neue Geschäfte zu ermöglichen. Das hat einerseits damit zu tun, dass der Gesetzgeber oder Regulator meist nach Skandalen und Schieflagen tätig wird. Man denke international an Lehman oder national an Wirecard. Es hat aber auch mit einem weit verbreiteten Grundmisstrauen zu tun, das in unternehmerischer Aktivität zuvorderst die Ausbeutung vieler zugunsten weniger sieht. Dass von einem solchermaßen als „feindlich“ empfundenen Umfeld Unternehmer und Manager geradezu auf Fehlervermeidung und Risikominimierung trainiert werden, verwundert nicht.

Ein Beispiel aus diesen Tagen: Nach langen Verhandlungen hat sich der EU-Gesetzgeber auf die Nachhaltigkeitsberichterstattung für Unternehmen geeinigt, die von 2024 an stufenweise gleichberechtigt neben die Finanzberichterstattung treten soll (vgl. BZ vom 23. Juni). In der Diskussion und medialen Begleitung dieses Meilensteins standen aber nicht die Chancen im Mittelpunkt, die sich daraus für Unternehmen im Verhältnis zu ihren Stakeholdern und beim Einwerben von Kapital ergeben, sondern die Belastungen vor allem der mittelständischen Firmen durch die neuen Anforderungen, die künftigen Verpflichtungen der Unternehmen und die Missbrauchsbekämpfung von Greenwashing. Insbesondere Letzteres gehört seit einiger Zeit zu jenen Buzz­wörtern, die Aufseher, Investoren und Unternehmen hyperventilieren lassen.

Dass mit den neuen Regeln der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) das „Green­washing vorbei“ sei, wie Frankreichs Finanzminister Bruno Le Maire jubelte, ist kein gutes Erwartungsmanagement. So wenig die seit Jahrzehnten eingeübten und ständig verfeinerten Regeln der finanziellen Berichterstattung und deren Überwachung durch Wirtschaftsprüfer legale und illegale Bilanzkosmetik verhindern können, so wenig wird die noch ganz am Anfang stehende und von unterschiedlichen Institutionen wie SEC, EFRAG oder ISSB zu entwickelnde Nachhaltigkeitsberichterstattung das Greenwashing verhindern können.

Aber wo beginnt Greenwashing, wo hört es auf? In der finanziellen Berichterstattung sind die Dinge relativ einfach. Einnahmen und Ausgaben, Wertzuwächse und Wertminderungen, Investitionen und Ab­schreibungen gibt es in jedem Unternehmen und lassen sich leicht quantifizieren. Am Ende stehen unterm Strich schwarze oder rote Zahlen. Die Nachhaltigkeitsthemen und ihre Anforderungen hinsichtlich Umwelt, Soziales und Governance lassen sich nicht wie bei der finanziellen Berichterstattung in ein Schema pressen. Sie variieren stark von Land zu Land, von Branche zu Branche und von Geschäftsmodell zu Geschäftsmodell. Und sie unterliegen immer schnelleren Veränderungsprozessen. Muss wirklich der Regulator festlegen, welche der Fifty Shades of Green die zulässige Variante sind?

Aktivere Rolle

Nachhaltigkeit darf, ebenso wie die Rechenschaft darüber, nicht das Spezialgebiet einiger Experten werden, an die man das Thema delegiert in der Hoffnung, damit auch Verantwortung outsourcen zu können. Nachhaltigkeitsthemen tangieren die Strategie, das Geschäftsmodell und jedes klassische Vorstandsressort. Deshalb können sie nur im Team erfolgreich gelöst werden. Dies hat Folgen für die Art der Zusammenarbeit in Vorstand und Aufsichtsrat. Neben dem nötigen Fachwissen zu ESG-Themen, das künftig jedes Vorstands- und AR-Mitglied mitbringen sollte, zählen Kooperationsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit dazu. Aufsichtsräte dürfen sich nicht auf die Kontrolle beschränken, sie müssen künftig eine viel aktivere Rolle als Berater des Vorstands einnehmen. Die EU-Gesetzgebung, aber auch der reformierte und demnächst veröffentlichte deutsche Corporate-Governance-Kodex bieten Anlass und Grundlage für diese Veränderung. Man muss nur die Gelegenheit erkennen und ergreifen – wie beim Wortspiel #opportunitiesareNOWhere.

c.doering@boersen-zeitung.de

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