Ralf Thomas, Siemens

„Siemens war noch nie so stark wie heute“

Siemens hat mit der Aufspaltung auf das richtige Pferd gesetzt. Die Neuordnung der Weltwirtschaft erzwingt den Bau vieler Fabriken. Auch im zweiten Quartal läuft es gut, wie Finanzchef Ralf Thomas erklärt.

„Siemens war noch nie so stark wie heute“

Michael Flämig.

Herr Professor Thomas, die Bankenbranche ist unter erheblichem Druck. Welche Folgen hat dies für Siemens?

Turbulenzen in der Finanzdienstleistungsbranche kann ein Industriekonzern immer dann gut überstehen, wenn er ein starkes Rating oder eine sehr gute Bilanz hat. Beides ist bei Siemens der Fall. Wir pflegen seit Generationen eine sehr solide Bilanzpolitik, die Einschätzung durch die Ratingagenturen ist sehr gut. Deshalb sind wir entspannt, beobachten die Ereignisse aber weiterhin sehr genau.

Was hat die Ereignisse ausgelöst?

Die Turbulenzen rund um Silicon Valley Bank & Co. sind nach Meinung vieler Experten auch das Ergebnis der raschen Zinswende der Notenbanken. Ich teile diese Analyse. Wenn man spät startet, gibt man sich Mühe, das Ziel auch schnell zu erreichen. Dabei kann es zu Kollateralschäden kommen. Dies ist kein Vorwurf an die Notenbanken. Es sind gigantische Aufgaben, die die Verantwortlichen zu stemmen haben.

Ist es vernünftig, dass UBS den Konkurrenten Credit Suisse erwirbt?

Der Schweiz scheint ein epochaler Befreiungsschlag gelungen zu sein. Chapeau! Von Freitagnachmittag auf Montagfrüh so etwas hinzustellen, das muss man erst einmal hin­kriegen.

Was bedeutet dies für Siemens?

Wir haben aus anderen Gründen schon vor einiger Zeit begonnen, unsere Geschäftsaktivitäten mit Credit Suisse sehr überschaubar zu gestalten. Wir sind also marginal betroffen.

Ist es ein Nachteil, unter weniger großen Banken in Europa wählen zu können?

Auf Siemens trifft dies nicht zu, denn wir haben zu allen Banken auf der Welt einen guten Zugang. Für andere ist es womöglich problematischer, dass eine Adresse der Top-30-Banken wegfällt.

Was bedeutet dies für Europa?

Eine weitere europäische Großbank verliert ihre Bedeutung auf der Weltbühne. Die Bankenlandschaft in Europa wird schwächer, transatlantische Institute gewinnen an Einfluss.

Erwarten Sie eine erhöhte Kreditrisikovorsorge von Siemens Financial Services?

Siemens Financial Services dient vorrangig der Absatzfinanzierung. Sie kennt die Kunden und deren Geschäftsmodelle sehr gut. In den vergangenen drei Jahren haben wir Klumpenrisiken gezielt vermieden. Im Augenblick ist für mich kein materielles Thema für den Konzern erkennbar.

Wie lange müssen wir mit Volatilität im Kapitalmarkt rechnen?

Das wird eine ganze Weile spannend bleiben. Aufsichtsbehörden und Politik reagieren mit hoher Geschwindigkeit, sie zeigen Handlungswillen und Entschlossenheit. Aber ich wäre nicht überrascht, wenn einige eher kurzfristig orientierte Investoren sich die Situation zunutze machen wollen und dadurch zusätzliche Volatilität erzeugen.

Werden die Finanzmarkt-Turbulenzen auf die Siemens-Liquiditätsbeschaffung durchschlagen?

Man kann auf solche Fragen niemals „nie“ sagen. Immer wenn im Bankenumfeld Unsicherheit entsteht, reagiert das System mit mehr Vorsicht. Dann werden Volumina etwa bei ganz kurzfristigen Zwischenfinanzierungen kleiner. Siemens ist aber, wie gesagt, mit einer starken Bilanz gewappnet.

Bis Ende 2024 müssen ja einige auslaufende Anleihen refinanziert werden.

Natürlich erhöhen sich mit der Zinswende die Refinanzierungskosten. Aber unser Cashflow ist hoch. Außerdem rechnen wir mit einigen Erlösquellen aus Assets, die wir nicht auf Dauer halten werden.

Wie ist das zweite Quartal gelaufen?

Es ist zu früh, dazu präzise Angaben zu machen. Das kommunizieren wir Mitte Mai bei der Vorlage der Halbjahreszahlen.

Wie ist denn Ihr Gefühl?

Wir haben Mitte März unsere Strategiegespräche mit den Verantwortlichen der operativen Geschäfte geführt. Das Ergebnis aus meiner Sicht ist, und ich darf dies als langjähriges Vorstandsmitglied sagen: Siemens war noch nie so stark wie heute.

Warum?

Fast die gesamte Weltwirtschaft steht vor großen Transformations­herausforderungen. Die Geopolitik erzeugt Kapitalallokationsmuster, die die Nachfrage nach unseren Produkten und Technologien vergrößern. Subventionsprogramme verschiedener Staaten tragen weiter dazu bei. Unser Ansatz passt, und das Umsetzen dieser Strategie funktioniert exzellent.

Einige Analysten hatten die Geschäftsjahresprognose im No­vember als zu ambitioniert bezeichnet.

Das hatte ich tatsächlich noch nicht oft gehört in meinen zehn Jahren Dienstzeit als Konzern-Finanzvorstand. Dann aber haben wir ein erstes Quartal abgeliefert, in dem wir nichts, aber auch überhaupt nichts schuldig geblieben sind – außer vielleicht eine noch bessere Cashflow-Performance, und die wird im zweiten Quartal kommen. Wir gehen aus einer Position der Stärke in den restlichen Geschäftsverlauf 2023. Daher haben wir die Prognose erhöht.

Diese Erhöhung war inkrementell. Deutet sich eine forschere Prognosepolitik an?

Wenn es so viele geopolitische und makroökonomische Unsicherheiten wie heutzutage gibt, schulden wir dem Markt eine präzisere Guidance. Das ist aber keine neue Politik in dem Sinne, dass die Siemens AG jetzt immer kleine Schritte in ihren Vorhersagen macht.

Wie sieht die nähere Zukunft aus?

Wir haben eine sehr hohe Planungssicherheit. Es ist kein Abreißen des Auftragseingangs erkennbar. Es gibt natürlich Regionen wie zum Beispiel China, in denen sich die Auftragseingänge beruhigen, weil es Sondersituationen wie die Pandemie oder das Neujahrsfest gab. Dies hat auch Konsequenzen für das Anzahlungsverhalten. Aber wir hatten in dem Land beispielsweise einen so starken Auftragseingang im ersten Quartal, dass wir uns für den Umsatz keinerlei Sorgen machen müssen.

Also läuft alles wie geplant?

Die Geschäftsentwicklung war in Summe bisher im zweiten Quartal vielleicht noch einen Tick besser, als wir zuletzt erwartet hatten. Wenn also alles perfekt läuft, dürfen wir uns vielleicht noch mehr freuen. Aber da müssen wir den 31. März abwarten.

Könnte es also am Ende des zweiten Quartals eine weitere Prognoseerhöhung geben?

Fragen Sie mich bitte im Mai.

Sie hatten im Januar angekündigt, dass sich die Sparte Digital Industries im zweiten Quartal eher am oberen Ende der im Januar erhöhten Jahresprognose bewegen würde.

Ich sehe keinen Grund, meine Aussagen zu ändern. Wenn es sehr gut läuft, können wir den Umsatz bei Digital Industries sogar stärker als für das zweite Quartal prognostiziert steigern, mit entsprechenden Auswirkungen auf die Marge. Bei Smart Infrastructure hatten wir prognostiziert, im zweiten Quartal im Korridor der angehobenen Jahresprognose zu landen. Davon gehe ich nun auch aus. Wenn es perfekt läuft, erreichen wir vielleicht sogar etwas mehr als das obere Ende der Umsatzprognose. Die Marge bewegt sich mit dem Umsatz nach oben, denn da ist eine Menge Produktgeschäft drin.

Wie läuft die Bahntechnik?

Mobility präsentiert sich sehr stabil mit einem guten Auftragseingang. Wir werden im zweiten Quartal sehr gute Wachstumszahlen sehen. Auch wenn man den Russland-Effekt im Vorjahresquartal herausrechnet, steht hinter dem Umsatz ein Ausrufezeichen. Das Verlassen des russischen Marktes hat allerdings in der Rentabilität eine Lücke gerissen, die sich nicht so schnell schließen lässt. Aber wir werden wie angekündigt im zweiten Quartal etwa auf dem Niveau des ersten Quartals landen.

Chinas Präsident Xi hat in dieser Woche den Schulterschluss mit Russland demonstriert. Hat das Auswirkungen auf die Attraktivität von China?

Entscheidungen über Investitionen in Fabriken und in die Geschäftsentwicklung treffen wir natürlich nicht kurzfristig oder in Abhängigkeit von Besuchen von Staatsmännern. Wir verfügen über eine sehr gut ausgewogene Verteilung unserer Standorte. Die Fertigungsstrukturen sind weltweit diversifiziert, und dies treiben wir auch weiter voran.

Leidet das China-Geschäft unter der Nähe des Landes zu Russland?

Dieser Besuch hat keine Konsequenzen für unser Investitionsverhalten. Aber wir haben natürlich großen Respekt vor der geopolitischen Polari­sierung.

Mit dem chinesisch-russischen Schulterschluss wächst mittelfristig das Risiko eines Krieges in Asien. Muss Siemens dies nicht schon heute bei Investitionsentscheidungen mitdenken?

Diese Bühne politischer Spekulationen möchte ich nicht betreten. Ich würde mir natürlich unbedingt wünschen, dass alle Verantwortlichen einen klaren Kopf behalten. Aber selbst wenn es so wäre, dass dieses Risiko größer wird, ist es keine Lösung, in irgendeiner Form prohibitiv und einzelwirtschaftlich zu agieren. Im Augenblick sehen wir uns also nicht veranlasst, irgendwelche fundamentalen Veränderungen in unserer Kapitalallokation vorzunehmen. China ist für uns unbestritten ein wichtiger Wachstumsmarkt. Langfristig gibt es nur eine Lösung für die großen Herausforderungen auf dem Planeten: Wir müssen gemeinsam an ihnen arbeiten.

Siemens will weltweit mehr investieren. Welcher Prozentsatz des Umsatzes wird künftig in Vertrieb und Verwaltung fließen?

Es ist sinnvoll, für eine Weile Gas zu geben und Wachstumsimpulse mitzunehmen. Auf Dauer ist es sicherlich so, dass wir die Vertriebskosten nicht proportional zum Umsatz aufbauen.

Investoren haben auf der Hauptversammlung gesagt, sie erwarten eine Weiterentwicklung des Aktienkurses, die begeistert. Warum klappt es nicht?

Ich habe sehr genau zugehört. Trotzdem würde ich widersprechen wollen, dass nichts passiert sei. Die Entwicklung des Aktienkurses geht mittlerweile in die richtige Richtung, die Analysten haben ihre Kursziele nach dem ersten Quartal deutlich erhöht. Der Schnitt steht im Moment bei 178,50 Euro.

Was erwarten die Investoren?

Die Botschaft aus dem Markt ist: Liefert das, was ihr euch vorgenommen habt, und überzeugt durch Performance. Dabei spielt insbesondere die Cash-Generierungsfähigkeit eine große Rolle, daher haben wir einen starken Fokus darauf gelegt. Wir haben natürlich ein paar Portfolio-Themen, die kontrovers diskutiert werden.

Der größte Brocken ist der 75-%-Anteil an Siemens Healthi­neers.

Das ist ein tolles Unternehmen. Es hat sich seit dem Börsengang sehr erfolgreich entwickelt und hochrelevante strategische Schritte unternommen. Mit Siemens Healthineers haben wir eine führende Position in einem säkularen Wachstumsmarkt.

Ist Siemens der richtige Mehrheitseigentümer?

Es gibt eine Menge an Dingen, die Siemens Healthineers und die Siemens AG gemeinsam erschließen können. Das Festhalten an einem Anteil von 75% ist aber kein Glaubenssatz. Die Entscheidung darüber erfordert eine kluge, intensive Analyse. Da sind wir in einer sehr guten Position, weil unser Vorstandsvorsitzender Roland Busch und das gesamte Team eine herausragende technologische Urteilskraft besitzen. Rückblickend werden alle Investoren mit unseren Entscheidungen glücklich sein, da bin ich ganz sicher.

75% sind für Sie keine Glaubenssache, 50% dann aber schon?

Im Augenblick ist es sicher sehr klug, in der Mehrheitsposition zu sein. Der Grund sind strategische Implikationen. Schauen Sie sich Dassault Systèmes an. Der Softwareentwickler ist im Jahr 2019 mit der Übernahme von Medidata in den Gesundheitsmarkt gegangen, obwohl er dort zuvor nie aktiv war. Warum? Weil es dort Wachstum mit profitablen Chancen gibt. Warum sollten wir unsere Markt- und Kundenkenntnisse nicht nutzen? Das wäre doch fahrlässig.

Investoren reiben sich auch immer wieder an Mobility.

Mobility ist ein Kerngeschäft der Siemens AG. Es ist auch wichtig für unser Nachhaltigkeitsportfolio. Wir sind eindeutig der Marktführer, wenn es um die Profitabilität und um die technologische Kompetenz geht. Zudem ist die Kapitalintensität dieses Geschäfts sehr gering. Damit steht Mobility deutlich besser da, als der bloße Blick auf die Marge vermuten lässt.

Die Kapitalerhöhung von Siemens Energy ist durch. Wird Siemens nun den 32-%-Anteil über den Aktienhandel schrittweise ab­schmelzen?

Unser Pensionsfonds hat dies ja sehr effizient mit seinem Energy-Aktienpaket gemacht. Sie müssen aber noch ein bisschen auf eine genaue Ankündigung warten, wann wir was tun werden. Siemens Energy hat mit der jüngsten Kapitalerhöhung 1,3 Mrd. Euro eingesammelt und damit einen weiteren wichtigen Meilenstein erreicht. Sobald Siemens Energy die Restaktien von Siemens Gamesa erworben hat, haben wir volle Klarheit über den Kapitalbedarf.

Wie geht der Abschied von den sogenannten Portfolio Companies voran?

Wir haben alles geliefert, was wir angekündigt haben. Und wir werden auch den Rest liefern. Ich habe mehrfach gesagt, wann immer ich in den Ruhestand gehe, wird dies erledigt sein. Die Portfolio Companies sind für unsere Investoren keine Sorgenkinder mehr. Wir haben übrigens bei keinem Geschäft, das wir abgegeben haben, irgendeine relevante Stakeholder-Gruppe vernachlässigt.

Ist Innomotics ein Börsenkandidat?

Das neue Unternehmen rund um die frühere Siemens-Einheit Large Drive Applications ist erst einmal ein Kandidat für einen Carve-out. Wir werden zum 1. Juli die deutsche Organisation rechtlich verselbständigt haben. Am Ende des Geschäftsjahres wird der Carve-out dann mehr oder weniger komplettiert sein.

Analysten bemängeln teils, Smart Infrastructure gewinne im Gegenteil zu Digital Industries keine Marktanteile.

Das würde ich so nicht unterschreiben. Smart Infrastructure agiert ja in mehreren Märkten. Gemessen am Volumen gilt: In fast 90% ihrer Geschäfte hat die Sparte deutlich aufgeholt. Wenn sich Smart Infra­structure weiter so entwickelt wie in den vergangenen zwei Geschäftsjahren, dann werden wir ein weiteres Juwel polieren.

Das Interview führte