Handelspolitik

Transat­lantischer Subventions­streit 2.0

Statt eines neuen Anlaufs für ein transatlantisches Freihandelsabkommen steuern USA und EU mal wieder auf Kollisionskurs. Was nun?

Transat­lantischer Subventions­streit 2.0

Siegfried Russwurm beugt sich auf seinem cremefarbenen Drehstuhl vor, beschwörend senkt er die Stimme, fast flüstert er. „Der Geruch von Protektionismus“ liege in der Luft, haucht der Chef des Industrieverbands BDI den Gästen des European Banking Congress in Frankfurts Alter Oper entgegen. Dabei reibt er seine Finger vor der Nase aneinander. Dann richtet Russwurm sich wieder auf und setzt zu einem flammenden Plädoyer für einen wirtschaftspolitischen Aufbruch in Deutschland und Europa nach amerikanischem Vorbild an.

Die Gäste aus der Bankenszene haben richtig gehört: Anlass für Russwurms Monolog über den Umgang mit Protektionismus ist nicht etwa China, es sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Es geht um Hunderte Milliarden Dollar schwere Förderprogramme, die Elektroautos, Windräder und andere Zukunftstechnologien made in USA gegenüber ausländischer Konkurrenz bevorzugen – unter schamloser Missachtung geltenden Welthandelsrechts. So sehen es zumindest die Europäer. Die EU-Kommission hält mit ihrer eigenen Vision strategischer Industriepolitik dagegen. Längst ist von einem Subventionswettlauf die Rede.

Zwei Jahre nach dem vor allem in Europa herbeigesehnten Machtwechsel im Weißen Haus ist ein neuer transatlantischer Handelskonflikt im Gange. Ungute Erinnerungen werden wach an den epischen Subventionsstreit über die Flugzeugbauer Airbus und Boeing. Das Thema ist von so grundsätzlicher Bedeutung, dass es in Schlagzeilen, Positionspapieren und Podiumsdiskussionen sogar die Energiekrise im Schatten des Ukraine-Kriegs in den Hintergrund gedrängt hat. Genauer: Die Energiekosten sind nur noch ein Aspekt unter vielen, warum Europas Wirtschaft gegenüber den USA um ihre Wettbewerbsfähigkeit bangt.

Buy American statt America First

Im Kern geht es um Bidens Prestigeprojekt mit dem irreführenden Namen Inflation Reduction Act (IRA). Denn im Gewand des Verbraucherschutzes vor Wucherpreisen kommt das knapp 370 Mrd. Dollar schwere Gesetz beispielsweise mit Steuergutschriften für Autokäufer und Subventionen für Autobauer daher. Voraussetzung: Das E-Auto muss in den USA montiert und wichtige Komponenten wie Batterien müssen dort hergestellt sein. Start: 1. Januar 2023. Unternehmen anderer Branchen können ebenfalls mit üppigen Subventionen rechnen, sofern ihre Produkte auf Bidens Klimapolitik einzahlen und aus US-Werken kommen. Nun bewahrheitet sich, wovor Wirtschaftsexperten schon am Abend der US-Präsidentschaftswahl im November 2020 warnten: Der Europa-Freund Joe Biden ist zwar diplomatischer im Ton, aber in der Sache keineswegs konzilianter als sein gefürchteter Vorgänger Donald Trump. Der betrieb Handelspolitik mit der Brechstange, wo Biden die feine Klinge bevorzugt. Aber auch die ist – das zeigt sich spätestens jetzt – scharf und schmerzhaft, gerade für die Europäer. „Buy American“ statt „America First“.

Vom Mittelständler bis zum Dax-Konzern fürchten hiesige Unternehmen reihenweise um ihren wichtigsten Absatzmarkt weltweit. Allen voran betrifft das die Autoindustrie: Keine Branche macht so gute Geschäfte in den USA wie Volkswagen und Co. (siehe Grafik). Aber auch andere Branchen sind not amused: Die Maschinenbauer fordern „größere Dringlichkeit“ beim Abbau von Handelshindernissen. Volker Treier vom Industrieverband DIHK erkennt in der „diskriminierenden US-Industriepolitik“ ein Muster, das sich auf große Infrastrukturprogramme und die Halbleiterindustrie erstrecke.

Bis zur letzten Minute verhandelte die EU-Kommission deshalb über Zugeständnisse. Vor allem aber kontert sie mit ihrer eigenen Subventionsagenda. Kommissionschefin Ursula von der Leyen stellt klar: „Wir müssen unsere Antwort geben, unseren europäischen IRA.“ DIHK-Fachmann Treier befürchtet einen „Überbietungswettbewerb“ bei Subventionen. Ökonomen sind entsetzt: Ein Subventionswettlauf kostet letzten Endes Wohlstand und bringt langfristig mehr Verlierer als Gewinner hervor.

USA attraktiver für Investoren

In Frankfurts Alter Oper ist BDI-Chef Russwurm so richtig in Fahrt gekommen. „Wie wäre es, die Unternehmen nicht nur zu kontrollieren, sondern sie auch zu unterstützen?“, fleht er Richtung Brüssel. Sogar das eher träge Auditorium beim Bankenkongress reißt er damit für einen Moment aus dessen wohliger Trance, viele Gäste aus der Finanzszene applaudieren spontan. Die Amerikaner machten es doch vor, doziert Russwurm. Inflation Reduction Act, Chips Act, deutlich günstigere Energie als in Europa: „Das alles macht Amerika gerade sehr attraktiv für Investoren.“

Attraktiv für Investoren: So ein Lob würde EU-Kommissionschefin von der Leyen auch gerne hören. Von Russwurm bekommt sie zu hören, dafür müsse „sich die EU industriepolitisch besser aufstellen“. Mit Auftritten an einer Universität in Brügge und im Europaparlament wagte von der Leyen im Dezember den Befreiungsschlag. Sie spricht sich für einen Kurswechsel in der Industriepolitik aus. Will staatliche Beihilfen für klimafreundliche Technologien erleichtern. Bis Mitte 2023 einen „Souveränitätsfonds“ ausarbeiten. Bei Beobachtern bleibt hängen: Von der Leyen wolle mehr Subventionen, mehr gemeinsame Schulden, mehr Staat.

Das Echo ist verheerend. Außenwirtschaftsexperte Holger Görg vom Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) rät, einen kühlen Kopf zu bewahren. „Eigene Subventionen wären klar die falsche Reaktion. Sie würden eine massive Geldverschwendung bedeuten und könnten am Ende auf einen Handelskrieg hinauslaufen“, warnt Görg. „Hektische Gegenreaktionen schaden mehr, als dass sie nützen.“ DIHK-Außenwirtschaftschef Treier hält bei aller Besorgnis über die US-Wirtschaftspolitik eines ganz sicher für den falschen Weg: „sich selbst etwa durch ein ‚Buy European‘ ebenfalls abzuschotten“. Sicher nicht die Art von Reaktionen, die von der Leyen sich erhofft hatte.

Auch Rufe nach einem Verfahren gegen die USA vor einem Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) weist von der Leyen zurück. Die werden nun aus unterschiedlichen Ecken laut. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) wird nicht müde zu betonen, die US-Regierung verstoße mit dem Inflation Reduction Act gegen das WTO-Regelwerk. Doch von der Leyen ist dagegen, die WTO einzuschalten. Sie will die Amerikaner nicht vor den Kopf stoßen. Nicht während in Europa Krieg herrscht.

Airbus und Boeing lassen grüßen

Womöglich hat ihr Zögern noch andere Gründe. Ein WTO-Verfahren könnte kaum verheilte Wunden aufreißen. Der Airbus-Boeing-Zwist ist Europäern wie Amerikanern frisch im Gedächtnis. Mehr als 15 Jahre stritten beide Seiten vor Schiedsgerichten, es ist der mit Abstand größte Subventionsfall der WTO-Geschichte – gegenseitige Vergeltungszölle in Milliardenhöhe inklusive. Gelöst ist der Fall nicht. EU-Kommission und Biden-Regierung haben sich lediglich darauf verständigt, die Strafzölle fünf Jahre ruhen zu lassen. Ohnehin hätte ein Verfahren vor der WTO wenig Aussicht auf Erfolg. Denn auch unter Biden blockiert die US-Regierung nach wie vor die Berufungsinstanz der WTO-Streitbeilegung. Reformbemühungen laufen ins Leere. Mit einigen Handelspartnern hat die EU einen Ausweichmechanismus vereinbart. Die USA sind da aber außen vor. Handelskonflikte mit US-Beteiligung lassen sich deshalb auf unabsehbare Zeit nicht final schlichten.

Die große Hoffnung in den transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen trägt deshalb das Kürzel TTC: Der Trade and Technology Council ist eine Art Maschinenraum der Handelspolitik. Biden-Regierung und EU-Kommission haben ihn ins Leben gerufen, um sich wieder anzunähern. Die Arbeit an gemeinsamen Standards bei der Ladeinfrastruktur läuft, ein Frühwarnsystem für Engpässe in den Lieferketten der Chipindustrie soll kommen, die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz (KI) vertieft werden. Die Maschinenbauer freuen sich über Fortschritte bei teuren und zähen Zertifizierungen für den US-Markt. All das könne „nur der Startschuss für konkrete Aktivitäten sein“, sagt der Abteilungsleiter Außenwirtschaft des Branchenverbands VDMA, Ulrich Ackermann. Aber immerhin.

Eines trauen sich Wirtschaftsvertreter kaum noch anzusprechen: ihren Wunsch, Gespräche über ein großes Freihandelsabkommen nach dem Vorbild von TTIP wiederaufleben zu lassen. Die Verhandlungen waren vor sechs Jahren infolge von Massendemonstrationen in Deutschland und der Wahl Trumps zum US-Präsidenten gescheitert. Eine Neuauflage sei „kurzfristig illusorisch“, räumte DIHK-Außenwirtschaftschef Treier schon im Juni am Rande des WTO-Gipfels in Genf ein. Wahrscheinlicher ist TTIP 2.0 seitdem nicht geworden. Es geht allenfalls um eine kleine Lösung, beispielsweise ein Industrieabkommen zur Abschaffung von Zöllen. Das strebt auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an. Und es geht darum, eine Politik der Abschottung zu verhindern.

Bei Industriepräsident Russwurm ist da noch eine Menge Überzeugungsarbeit nötig. Im Anschluss an das jüngste Treffen des Handels- und Technologierats in Maryland Anfang Dezember – zweieinhalb Wochen nach seinem Auftritt in der Alten Oper – zeigt Russwurm sich über die Ergebnisse ernüchtert. „Anstatt einen für beide Seiten schädlichen Subventionswettlauf zu starten“, resümiert der BDI-Chef, „sollten US-Regierung und EU-Kommission alle Anstrengungen unternehmen, Protektionismus, Investitions- und Handelsbarrieren unter Partnern abzubauen.“ Klingt eigentlich nach einer Selbstverständlichkeit unter engen Verbündeten. Ist es aber nicht.