Der ETF-Wildwuchs treibt zunehmend gefährlichere Blüten
Assetmanagement
Gefährlicher Wildwuchs am ETF-Markt
Von Alex Wehnert
Zunehmend komplexe Finanzprodukte werden im Gewand börsengehandelter Fonds weithin verfügbar. Dabei gleicht der Markt längst einem Kartenhaus, das irgendwann in sich zusammenfallen muss.
Das ungehemmte Wachstum börsengehandelter Fonds gefährdet die Stabilität der globalen Finanzmärkte zunehmend. Allein in den USA sind inzwischen nahezu 4.000 ETFs gelistet, die global in den Vehikeln verwalteten Mittel haben die Marke von 15 Bill. Dollar überschritten und laut Umfragen der Beratungsgesellschaft PwC gehen Branchenvertreter von einem Wachstum auf mindestens 26 Bill. Dollar bis Ende des Jahrzehnts aus. Ein substanzieller Teil entfällt dabei auf US-Standardindizes wie den marktbreiten S&P 500 und den technologielastigen Nasdaq 100, die wiederum von einer kleinen Anzahl an Werten dominiert werden. Die Folge des Wachstums sind damit massive Konzentrationsrisiken im Markt, die von Monat zu Monat – wenn eine zunehmende Zahl an Privatanlegern den Boom unreflektiert durch Beiträge aus ihren Fondssparplänen stützt – akuter werden.
Fondsmanager denken zu kurzfristig
Wenn weite Teile des Aktienmarkts nur noch über solche Vehikel passiv positioniert sind, ist dies dem Preisbildungsprozess abträglich. Für diesen braucht es aktive Investoren, die nach Werten suchen, mit denen sie eine Outperformance erzielen können, und dafür mitunter heftige Fehlschläge riskieren. Doch ein bedeutender Teil der Fondsmanager zeigt sich bereits heute außerstande, sich von der Masse abzuheben und Gegenwind auszuhalten – stattdessen gleichen viele Aktiv-Portfolios in ihrer Zusammensetzung heute den US-Benchmarks. Vermögensverwalter denken mit solchen verkappten Passiv-Strategien zu kurzfristig, da sie im Gebührenwettbewerb nicht mit ETFs mithalten können. Besitzen sie keine Alleinstellungsmerkmale mehr, wird es für sie über kurz oder lang schwierig, Anleger von sich zu überzeugen, die viel reibungsloser in Indexfonds investieren können.
Infolge dieser Entwicklung kennt der moderne Aktienmarkt sowohl bei Rallys als auch in Krisenzeiten nur noch eine Richtung, weil die Masse der Teilnehmer nahezu gleich positioniert ist. Zwischen äußerst frequent gehandelten Indexfonds und ihren Basiswerten besteht zu oft ein Liquiditätsungleichgewicht, in dessen Folge sich Kursabschwünge in Krisenzeiten noch beschleunigen können. Vermögensverwalter sind deshalb in Zeiten geopolitischer Turbulenzen und wachsender Risiken durch eine erratische Fiskalplanung Washingtons schnell mit „Analysen“ bei der Hand, in denen sie Gefahren klein reden und Anleger beschwören, doch ja die Ruhe zu bewahren und an ihren Positionen festzuhalten. Natürlich ist Panik kein guter Ratgeber, die Strategie, den Kopf in den Sand zu stecken, kann langfristig allerdings auch nicht funktionieren. Denn wenn der fundamentale Abschwung kommt, wirkt er sich an den Märkten umso heftiger aus, da alle Teilnehmer sich plötzlich gleichzeitig zum Handeln gezwungen sehen.
Zunehmend esoterische Produkte
Nun wird eine wachsende Zahl an Investoren des Einheitsbreis der Fondsanbieter überdrüssig. Infolge der Konformität am öffentlichen Aktienmarkt drängen auch Privatanleger mit schwerem Informationsdefizit inzwischen in die Private Markets oder zumindest in Derivate, die noch Chancen auf Überrenditen bieten. Der Zugang zu diesen Assets hat sich über Investmentgesellschaften mit fragwürdigem Ethos ausgeweitet – und selbstverständlich auch über ETFs, in denen zunehmend komplexere Finanzprodukte verpackt werden. So hat die New Yorker Investmentfirma Calamos einen börsengehandelten Fonds auf strukturierte Produkte mit automatischem Call lanciert.
Bei den Derivaten, die Investoren stetige Auszahlungen versprechen, sofern die Aktienmärkte nicht unter bestimmte Grenzmarken fallen und die im Nachgang der Finanzkrise 2008 bei wohlhabenden und renditehungrigen Anlegern deutlich an Beliebtheit gewannen, wird üblicherweise eine Mindestanlagesumme von 250.000 Dollar fällig. Beim neuen, von J.P. Morgan gestützten ETF sind hingegen Anteile zu 1 Dollar verfügbar – und andere Anbieter stehen schon in den Startlöchern, mit ähnlichen Autocallables-Produkten nachzuziehen. Insgesamt ist der Markt für US-notierte ETFs auf Derivate-Basis oder mit angeblich fest definierten Ausschüttungen rapide gewachsen. Laut dem Research-Anbieter Morningstar belief sich das Volumen Ende 2019 noch auf 3,5 Mrd. Dollar, zuletzt lag es bei 179 Mrd. Dollar.
Totalverlust droht
Für Privatanleger ist dabei zunehmend schwieriger zu überblicken, in was genau sie mit den auch über Großbanken vertriebenen, esoterischen ETFs eigentlich investieren und welchen Risiken sie sich damit aussetzen. Bei Autocallables beispielsweise wird ihnen der Eindruck vermittelt, sie hielten ein enorm sicheres, anleiheähnliches Instrument mit regelmäßigen Kuponzahlungen. Fällt der Basisindex unter bestimmte Marken, droht ihnen jedoch ein Totalverlust, auf den sie im Zweifel nicht vorbereitet sind. Das Liquiditätsungleichgewicht zwischen Fonds und Basiswert, das schon bei ETFs auf öffentlich gehandelte Aktien enorm ist, fällt bei solchen Produkten noch weitaus größer aus. Der angeblich so effiziente und durch Regelmäßigkeit geprägte ETF-Markt nimmt sich damit zunehmend wie ein Kartenhaus aus, das irgendwann in sich zusammenfallen muss.