Ökonomen-Stimmen

„Die EZB steht vor einer wenig beneidens­werten Aufgabe“

Die anhaltend hohe Inflation im Euroraum bringt die EZB in die Bredouille. Vor der Zinssitzung am Donnerstag hat die Börsen-Zeitung fünf Top-Ökonomen befragt – zu den Inflationsaussichten und zur angemessenen Geldpolitik.

„Die EZB steht vor einer wenig beneidens­werten Aufgabe“

Wird die Inflation im Euroraum jetzt so stark sinken wie von der EZB erwartet – auf unter 2 % im Schnitt der Jahre 2023 und 2024?

Willem Buiter, Ex-Mitglied MPC der Bank of England: Das ist unwahrscheinlich. Wie die meisten Zentralbanken der fortgeschrittenen Volkswirtschaften hat die EZB die Intensität und wahrscheinliche Dauer des In­flationsschubs unterschätzt. Eine Ge­samt­inflation von 5,0 % – bzw. 2,8 % oh­ne Energie – erfordert eine straffe Geldpolitik mit einem Leitzins oberhalb des neutralen Zinssatzes – in der Eurozone von etwa 2,5 %. Stattdessen gibt es einen Leitzins von 0 % und fortgesetzte, monetäre Käufe von Vermögenswerten. Die Geldpolitik ist also weiterhin unangemessen expansiv.

Jürgen Stark, Ex-EZB-Chefvolkswirt: Die Projektionen des EZB-Stabs vom Dezember 2021 waren schon zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überholt. Die Inflationsrate wird aber wegen des Herausfallens temporärer Faktoren aus der Berechnung zurückgehen. Aus heutiger Sicht ist es recht kühn anzunehmen, die Inflationsrate würde wieder unter 2 % zu liegen kommen. Das mögen die Modelle zeigen, die am Ende des Projektionshorizonts immer wieder zum Inflationsziel führen.

Lena Komileva, Chefökonomin G+ Economics: Der Anstieg der Inflation wurde durch die Erholung in allen Volkswirtschaften und auf den Arbeitsmärkten unterstützt. Der Angebotsschock durch die Pandemie war nachhaltiger als der Nachfrageschock, der die Preise für weltweit gehandelte Güter auf die höchste Inflationsrate seit den 1970er Jahren ansteigen ließ. Zum ersten Mal seit der Weltfinanzkrise und der Eurokrise pendelt sich die Kerninflation nicht mehr unter, sondern bei 2 % ein, mit Risiken nach oben. Das bedeutet, dass die EZB mit dem Ausstieg aus ihrer Niedriginflationspolitik beginnen kann.

Volker Wieland, Mitglied Sachverständigenrat: Dieses Jahr wird die Verbraucherpreisinflation wohl deutlich darüber liegen mit mehr als 3 % im Schnitt. Die Bandbreite aktueller Expertenprognosen für 2023 reicht von 0,8 % bis 2,2 %. Mit 1,8 % liegt die EZB-Stabsprognose vom Dezember einen Tick über dem Expertendurchschnitt von 1,6 %. Ich halte über 2 % für gut möglich, da eine Reihe von Faktoren, nicht zuletzt die zögerliche Geldpolitik, den erwarteten Rückgang verzögern könnten. Aber egal ob die Inflation knapp drunter oder drüber liegt, die EZB muss den Leitzins nach oben anpassen.

Athanasios Orphanides, Ex-Chef der zypriotischen Zentralbank: Es ist schwierig, das Gleichgewicht zwischen Angebotsengpässen und der Erholung von Beschäftigung und Nachfrage zu beurteilen. Dies macht die Inflationsaussichten ungewöhnlich unsicher, aber die jüngste Inflationsprognose der EZB ist vernünftig. Besorgniserregend ist, dass das Basisszenario einen Rückgang auf unter 2 % für den politisch relevanten Zeithorizont zeigt. Das heißt, dass die Fi­nanz- und Geldpolitik ex­pansiv sein muss und ein höheres Wachs­tum und ei­­ne hö­here Beschäftigung unterstützen kann, in Einklang mit Preisstabilität.

Wie groß ist die Gefahr einer langfristig strukturell höheren Inflation – etwa als Folge des Kampfes gegen den Klimawandel, Stichwort: Greenflation?

Buiter: Eine strukturelle Inflation über dem Zielwert gibt es nicht. Die EZB ist womöglich nicht in der Lage, die Inflationsrate zu er­höhen, wenn der Leitzins an der unteren Grenze liegt; sie kann die Inflation aber im­mer durch eine Straffung der Geldpolitik senken. Nur eine dauerhafte fiskalische Dominanz hindert eine Zentralbank daran, den Leitzins anzuheben und die Geldausgabe zu steuern. Der Klimawandel samt Reaktion können das Angebot beeinträchtigen und die Nachfrage steigern. Die EZB kann damit umgehen.

Stark: Einige bisher disinflationär wirkende Faktoren wie Demografie und Globalisierung kehren sich um. Hinzu kommt, dass insbesondere die Klimaschutzpolitik sich als Inflationstreiber erweist. Es gibt also strukturelle Veränderungen, die zu höherer und einer sich verfestigenden Inflation sowie zu höheren Inflationserwartungen führen können. Die EZB kann eine solche Entwicklung nicht tolerieren und muss gegensteuern, wenn sie ihr Kernmandat ernst nimmt.

Komileva: Die grüne Revolution bedeutet, dass die strukturell höhere Inflation bleiben wird. Dies erfordert sorgfältiges politisches Ma­nagement. Die durch die Pandemie entstandenen globalen Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage er­fordern gezieltere öffentliche Investitionen und Anreize für privates Kapital, um die Einschränkungen des Wachstumspotenzials durch den Klimawandel, die Demografie und fragmentierte Lieferketten zu bewältigen. Die Politik muss neu ausgerichtet werden auf den Wiederaufbau der Produktionskapazitäten.

Wieland: Die Preise für fossile Energien werden wohl hoch bleiben. Aber man darf relative Preisänderungen nicht mit allgemeiner Inflation verwechseln. Die allgemeine Inflation misst den Kaufkraftverlust der nationalen Währung. Der Anstieg der Staatsverschuldung und Transferleistungen, finanziert über Staatsanleihekäufe der Notenbank, bringen mehr Geld in Umlauf. Und wenn die Menschen das in den Lockdown-Phasen gesparte Geld ausgeben, schlägt das auf die Nachfrage durch und treibt Preise nach oben.

Orphanides: Die langfristigen Risiken sind beidseitig und hängen von den Maßnahmen ab, die die Regierungen ergreifen. Eine Regierungspolitik, die Innovationen und Investitionen in neue Technologien fördert, würde die Produktivität erhöhen und die Inflation senken. Ein Verbot sauberer Energieformen ohne Innovationsförderung würde das Gegenteil bewirken. In jedem Fall können diese Effekte in den Projektionen der EZB be­rücksichtigt werden, und die Geldpolitik kann so kalibriert werden, dass mittelfristig 2 % Inflation erreicht werden.

Die EZB ist beim Ausstieg aus der ultraexpansiven Geldpolitik sehr viel zöger­licher als die US-Notenbank Fed. Hat die EZB mehr Zeit oder muss sie schneller aus den Anleihekäufen ausstei­gen und rascher die Zinsen erhöhen als bislang avisiert?

Buiter: Mit einer Inflationsrate von 7 % und einer stär­ker geschädigten An­gebotsseite ist die Fed noch weiter hinter der Kurve als die EZB. Ohne die An­käufe von Vermögenswerten durch die EZB könnten einige zahlungsunfähige Staaten (z. B. Griechenland, Zypern, Portugal und Italien) ih­re Haushaltsdefizite nicht auf den Märkten finanzieren. Ich würde der EZB raten, den Leitzins anzuheben, bevor sie aus den An­käufen aussteigt.

Stark: Die Fed hat sehr lange gebraucht, um zu erkennen, dass die hohe Inflationsrate kein rein temporäres Phänomen ist. Sie ist also deutlich hinter der Kurve. Das sollte die EZB berücksichtigen. Je länger die EZB jetzt zögert, ihre Kommunikation zu ändern, um eine mögliche erste Zinsanpassung noch 2022 sowie das Einfrieren der Anleihekäufe zu signalisieren, desto schwierigerer wird die Inflationsbekämpfung sein.

Komileva: Die EZB steht vor der wenig beneidenswerten Aufgabe, die globalen Risiken ei­nes neuen Wachstumsschocks etwa durch an­zie­hende Anleiherenditen und eines dau­erhaften Inflationsschocks in einer an­dau­ernden Pandemie auszubalancieren – wobei keine dieser Kräfte in ih­rem Einflussbereich liegt. Steigende Kreditkosten könnten auch die Geister der Euro-Krise wiedererwecken und die wirtschaftliche Anfälligkeit erhöhen.

Wieland: Die Situation ist nicht ganz so dramatisch wie in den USA. Aber die EZB sollte erklären, zu welchem neutralen Zinsniveau die Reise geht und sich dieses Jahr noch auf den Weg machen. Die Notenbanker in den USA sind da transparent. Sie er­war­ten 2,5 % mittelfristig. Die EZB-Politik wird im Moment automatisch expansiver, weil der Anstieg der Inflationserwartung die reale Verzinsung noch tiefer ins Negative treibt.

Orphanides: Es wäre ein Irrtum, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen und die Politik voreilig zu straffen. Die Fiskal- und Geldpolitik wurde in den USA in den Jahren 2020 bis 2021 stärker gelockert als im Euroraum. Der Inflationsdruck ist in den USA größer. Im Gegensatz zur Fed muss die EZB ihre akkommodierende Politik beibehalten, um eine Rückkehr zur „Lowflation“ – zu niedrige Inflation und zu geringes Wachstum – zu vermeiden.

Welche zentrale(n) Lehre(n) sollte die EZB aus den Krisen der vergangenen Jahre mit Blick auf ihre Politik und ihre Instrumente ziehen?

Buiter: Die wichtigste Lehre aus der Finanzkrise 2007 bis 2009, der Staatsschuldenkrise in der Eurozone 2010 bis 2015 und der Covid-Krise ist für die EZB wie für jede andere Zentralbank, dass Finanzstabilität das oberste Mandat ist. Sie hat Vorrang vor der Preisstabilität (oder, im Falle der Fed, vor dem doppelten Mandat aus Preisstabilität und maximaler Beschäftigung) und vor allen anderen Desideraten, einschließlich grüner Ziele. Finanzielle Stabilität ist eine Voraussetzung für all diese anderen Ziele.

Stark: Die EZB ist seit 2008 nie aus dem Krisenmodus herausgekommen, obwohl die Möglichkeit und Notwendigkeit dazu bestanden. Sie beging Diagnose- und Politikfehler und machte die Inflationsprojektionen zum alleinigen Handlungsmaßstab. Die Inflationsrisiken wurden unterschätzt und die „Sekundärziele“ entdeckt. Unnötige und wenig effektive Maßnahmen wurden eingeführt, wie z. B. der negative Einlagenzins und die Aufblähung der Bilanz. Sie hat sich damit in eine äußerst missliche Lage gebracht.

Komileva: Niedrigere Marktzinsen haben im vergangenen Jahr als entscheidender Wachs­tumsstabilisierungsmechanismus gewirkt, indem sie den Regierungen le­bensrettenden fiskalischen Spielraum verschafft haben. Doch dies waren au­ßer­gewöhnliche Anstrengungen für au­ßergewöhnliche Zeiten. Die hohe Inflation wirft auch Fragen zu der Annahme auf, dass Erhöhungen der fiskalischen Unterstützung durch eine Geldmengenausweitung finanziert werden können, ohne dass es zu Auswirkungen kommt.

Wieland: Wertpapierkäufe sind wichtig als Kriseninstrument und stützen die Konjunktur. Aber während der wirtschaftlichen Wachstumsphase von 2015 bis 2019 hatten sie nur eine schwache Wirkung auf die Güterpreisinflation. Dafür bringen sie Vermögenspreisinflation und Finanzstabilitätsrisiken mit sich. Inflationsprognosen von zwei bis drei Jahren sind sehr un­sicher und revisionsanfällig. Die EZB sollte die Politik nicht allein daran ausrichten. Außerdem sollte sie verschiedene verfügbare Inflationsmaße einbeziehen.

Orphanides: Die wichtigste Lektion ist die Beseitigung des „Klippeneffekts“ für Staatsschulden im EZB-Sicherheitenrahmen. Am 22. April 2020 beschloss die EZB, die destabilisierende Praxis der Verwendung von Kreditratings zur Bestimmung, ob Staatsschulden als Sicherheiten zugelassen sind, einzustellen. Auf diese Weise verhinderte die EZB, dass es während der Pandemie zu Umschuldungskrisen kam, wie sie in früheren Jahren toleriert worden waren. Dies brachte die EZB näher an die beste Zentralbankpraxis heran.

Sollte die EZB ähnlich wie andere wichtige Zentral­banken in Zukunft explizit die Rolle als „Kreditgeber der letzten Instanz“ für die Euro-Staaten übernehmen?

Buiter: Ja. Es ist an der Zeit, Artikel 123 des EU-Ver­trags abzuschaffen. Die EZB muss an­erkennen, dass eine vorübergehende fiskalische Dominanz in Zeiten staatli­cher Liquiditäts- und Solvenzkrisen un­ver­meidlich ist, selbst wenn der Euro­raum über eine ernsthafte zentrale Fiskalkapazität verfügen sollte. Staat­liche Liquiditätskrisen können durch In­terventionen der EZB gelöst werden. Bei den für Griechenland, Zypern, Portugal und Italien wahrscheinlichen Insolvenz­krisen kann die EZB zu einer geordneten Umschuldung beitragen.

Stark: Ein klares Nein! Denn das würde einen expliziten Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung bedeu­ten. Bereits die heutigen Staatsanleihe­käufe des Eurosystems sind rechtlich umstritten. Aus ökonomischer Sicht gibt es keinen Zweifel, dass der EZB-Rat durch seine Eingriffe in die Anleihemärkte monetäre Staatsfinanzierung betreibt und „Moral Hazard“ fördert, indem er es hoch verschuldeten Ländern ermöglicht, sich zu günstigen Konditionen immer weiter zu verschulden.

Komileva: Die Zentralbanken sind für Liquiditäts­pro­bleme zuständig, die Regierungen für Solvenzprobleme. Die EZB braucht diese Trennung, um unabhängig zu agieren. Aber das heißt, dass sie über die opera­ti­ve Flexibilität verfügen muss, um effi­zient zu handeln. Als die Märkte auf das Auseinanderbrechen des Euro wetteten – eine politische Entscheidung –, war die EZB die einzige Institution, die die Inte­grität und das Funktionieren der Märkte in der Währungsunion wieder­herstellen konnte. Ohne zentrale EU-Fi­nanzbehörde ist ein solcher Backstop unersetzlich.

Wieland: Die EZB macht bereits seit längerem den „Market-Maker“ für die Staatsanleihen­märkte. Kreditgeber der letzten Instanz für Euro-Staaten ist jedoch der Europä­ische Stabilitätsmechanismus. Dafür wurde er geschaffen. Er kann Konditio­nen stellen, für überschuldete Staaten. Die EZB ist da ungeeignet. Wenig sinnvoll ist es, die Anleihekäufe so stark auszu­wei­­ten, dass selbst hoch verschuldete Staaten die Coronahilfen des ESM links liegen lassen und die RRF-Darlehen des EU-Aufbaupakts nicht ausschöpfen.

Orphanides: Keine unabhängige Zentralbank sollte mo­netäre Staatsfinanzierung betrei­ben. Dies würde die Preisstabilität ge­fährden. Die Zentralbanken müssen das reibungs­lose Funktionieren der Staatsanleihen­märkte sicherstellen. Während der Pandemie hat die EZB ähnlich wie andere große Zentralbanken eher nach bewähr­ten Verfahren gehandelt, ohne die Preisstabilität zu gefährden. Es wäre bedauerlich, wenn die EZB zu ihren Praktiken aus der Zeit vor der Pandemie zurückkehren würde.

Die Fragen stellte Mark Schrörs.

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