Claudio Borio

„Risiko fiskalischer Dominanz erfordert Wachsamkeit“

Claudio Borio gehört zu den profiliertesten Köpfen in der Welt der Notenbanken. Im Interview spricht er über die Sorgen vor einem neuen Inflationsparadigma und die Tücken der ultralockeren Geldpolitik.

„Risiko fiskalischer Dominanz erfordert Wachsamkeit“

Mark Schrörs.

Herr Borio, seit Jahresbeginn hat die Inflation weltweit kräftig angezogen und auch deutlich stärker als erwartet. Ist das wirklich nur ein rein temporäres Phänomen oder womöglich doch ein neuer, längerfristiger Trend, gar ein neues Inflationsparadigma, wie mancher Beobachter unkt?

Das ist die 1-Bill.-Dollar-Frage! Oder heißt es die 20-Bill.- oder 30-Bill.-Dollar-Frage? Ich kann mir die exakte Summe nie richtig merken. Aber sicher ist: Das ist aktuell die alles entscheidende Frage. Unsere Einschätzung unterscheidet sich da nicht groß von jener der meisten Zentralbanken und Marktteilnehmer: Der starke Inflationsanstieg sollte vorübergehend sein.

Was macht Sie da so sicher?

Für diese Einschätzung gibt es eine Reihe Gründe. Zum einen erklärt sich der Inflationsanstieg stark mit technischen Faktoren wie Basiseffekten. Zum anderen gibt es derzeit starke Rückpralleffekte, weil viele Preise Anfang 2020 infolge der Corona-Pandemie eingebrochen waren. Ein dritter Faktor sind die aktuellen Engpässe auf der Angebotsseite, bei Vorleistungsgütern und Rohstoffen. Aber sobald diese Engpässe beseitigt sind, sollte sich der starke Preisauftrieb wieder umkehren. Das sieht man bei einigen Rohstoffen bereits. Hinzu kommt, dass der fiskalische Stimulus perspektivisch zurückgenommen wird und die Unterauslastung am Arbeitsmarkt anhält. Und der fundamentale disinflationäre Trend durch die Globalisierung und den technologischen Fortschritt hält an, was Lohn-Preis-Spiralen wie in den inflationären Zeiten unwahrscheinlich macht. All diese Faktoren deuten darauf hin, dass der starke Inflationsanstieg nur vorübergehend sein wird. Aber natürlich kann das etwas dauern.

Aber es besteht keinerlei Grund zur Sorge? Manch ein Beobachter warnt vor Parallelen zu den siebziger Jahren, als die steigende Inflation lange kleingeredet und dann zum riesigen Problem wurde.

Wie gesagt, unser zentrales Szenario ist, dass die Inflation nur vorübergehend so stark ansteigt. Aber in unserem Jahreswirtschaftsbericht untersuchen wir verschiedene Szenarien. Ein mögliches Risikoszenario ist, dass der Preisdruck länger als erwartet anhält und die Inflation auf ein nicht mehr komfortables Niveau steigt. Selbst wenn das weiter nur eine temporäre Entwicklung wäre, könnte das die Marktteilnehmer auf dem falschen Fuß erwischen. Die Märkte könnten darauf mit steigenden Zinsen reagieren. Das würde zu Problemen führen. Aber es wäre keine Rückkehr zur Inflation wie in den 1970er Jahren. Dafür bräuchte es viel mehr, eine grundlegende Änderung des politischen Regimes.

Was meinen Sie genau?

Längerfristig bräuchte es für eine solche Entwicklung zum einen eine echte Umkehr der Globalisierung samt Abschottung der Volkswirtschaften und eine noch größere Rolle des öffentlichen Sektors in der Wirtschaft. Zudem bräuchte es finanzielle Repression, typischerweise in Zusammenhang mit hoher Verschuldung, und Zentralbanken, die ihre Unabhängigkeit verlieren und nicht mehr in der Lage sind, dem politischen Druck zu widerstehen. Und es bräuchte eine Akzeptanz anhaltend höherer Inflation wie in den 1970er Jahren. Trotz einiger beginnender Anzeichen sehe ich ein solches wirtschaftliches und politisches Umfeld aktuell nicht und ich halte es auch in den kommenden Jahren nicht für plausibel. Wir sind also von einem Inflationsszenario wie in den 1970er Jahren weit entfernt. Aber man sollte diese Erfahrung durchaus als Mahnung im Hinterkopf behalten.

Also nicht in Panik verfallen, aber auch nicht zu selbstgefällig sein, wenn es um die Inflation geht?

Niemals in Panik verfallen und niemals selbstgefällig sein – ich denke, das ist eine sehr gute Faustregel für die politischen Entscheider.

Die Sorge einiger Beobachter rührt auch daher, dass in vielen Zentralbanken eine höhere Toleranz für Inflation Einzug gehalten hat, nach Jahren sehr niedriger Inflationsraten. In den USA ist ein vorübergehendes Überschießen des Inflationsziels jetzt sogar explizit Teil der neuen geldpolitischen Strategie des „Average Inflation Targeting“.

Für eine unkomfortabel lange unkomfortabel hohe Inflation bräuchte es wieder deutlich steilere Phillips-Kurven, also starke Preisreaktionen auf eine steigende Nachfrage, und eine Entankerung der Inflationserwartungen. Beides sehe ich absehbar nicht. Eine größere Toleranz der Zentralbanken für Inflation ist jetzt ganz natürlich, zumindest für viele Zentralbanken, die echte Schwierigkeiten hatten, Inflation zu erzeugen. Wenn die Inflation jetzt endlich in Richtung der Ziele steigt, ist das eine sehr positive Entwicklung. Solange sich der Inflationsprozess nicht grundlegend ändert, haben viele Zentralbanken die Möglichkeit, noch länger an der expansiven Geldpolitik festzuhalten und so etwa noch mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen. Voraussetzung ist, dass sie ihre Glaubwürdigkeit als Wächter von Preisstabilität erhalten. Wenn die Zentralbanken jetzt erfolgreich sind, hilft das auch, in der Zukunft die Zinsen wieder anzuheben und Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Die expansive Geldpolitik birgt aber auch einige Risiken. Je länger diese Geldpolitik anhält, desto größer werden diese Risiken.

Welche Risiken sorgen Sie da am meisten?

Das eine Risiko ist wie gesagt, dass die Inflation doch stärker ansteigt als gedacht und gewünscht. Das wäre gefährlich: Da die Phillips-Kurve aktuell so flach ist, müsste man bei einer zu hohen Inflation die Zinsen umso stärker anheben, um sie wieder zu senken. Die flache Phillips-Kurve ist der Freund der Zentralbanken, wenn sie versuchen, die Wirtschaft anzukurbeln, und ihr schlimmster Feind, wenn sie versuchen, die Inflation zu senken. Das zweite Risiko ist noch heimtückischer, weil es länger dauert, bis es sich materialisiert: Ein langanhaltendes Niedrigzinsniveau fördert die Risikobereitschaft der Marktteilnehmer und die Anfälligkeit des Finanzsystems. Das kann langfristig schweren Schaden anrichten. Es gibt also positive Aspekte einer größeren Toleranz gegenüber Inflation, aber auch Risiken. Für die Zentralbanken ist das eine Gratwanderung.

Steigende Inflation, starkes Wachstum, Risiken der ultralockeren Geldpolitik – ist jetzt der richtige Zeitpunkt, um zumindest den Einstieg in den Ausstieg aus dieser Krisen-Geldpolitik zu beginnen?

Eine Normalisierung der Geldpolitik ist sehr wichtig. Sie ist essenziell, um Handlungsspielraum zurückzugewinnen. Das gilt für die Geldpolitik, und das gilt für die Fiskalpolitik. Längerfristig ist das die größte Herausforderung. Aber der Zeitpunkt der Normalisierung hängt sehr stark von den Bedingungen in den einzelnen Ländern ab. Einige Zentralbanken haben bereits mit einer Straffung begonnen, vor allem in einigen Schwellenländern. Die Zentralbanken stehen grundsätzlich vor einer heiklen Abwägung: Auf der einen Seite müssen sie den Märkten und der Öffentlichkeit versichern, dass die geldpolitische Unterstützung für die Wirtschaft so lange wie nötig bestehen wird. Auf der anderen Seite müssen die Zentralbanken die Inflation längerfristig unter Kontrolle behalten und den Boden für die Normalisierung vorbereiten.

Derzeit scheinen die Zentralbanken wie nach der Weltfinanzkrise 2008/2009 einen sehr langsamen und graduellen Ausstieg zu wählen. Aber die Coronakrise ist ganz anderer Natur – braucht es da nicht womöglich einen zügigeren und entschlosseneren Exit?

Es steht außer Frage, dass der Ausstieg graduell vonstattengehen muss. Aber es ist ebenso wichtig, damit nicht zu lange zu warten. Die Krise hat gezeigt, wie wichtig es ist, über genug Puffer zum Gegensteuern zu verfügen. Ohne Puffer sind Volkswirtschaften anfälliger bei erwartbaren Problemen wie einer Rezession und bei unerwarteten Ereignissen wie etwa einer Pandemie.

Kann der Ausstieg ohne Turbulenzen an den Finanzmärkten gelingen, oder müssen die Zentralbanken das in Kauf nehmen?

Die Zentralbanken müssen die Märkte auf die Normalisierung vorbereiten, ohne sich die Hände zu binden. Sie müssen umsichtig sein, aber zugleich auch flexibel. Eine kalenderbasierte Forward Guidance würde zum Beispiel nicht ins aktuelle Umfeld passen – auch wenn das jenen am Markt, die damit Geld verdienen, das Liebste wäre. Auch da gibt es eine schwierige Abwägung: Die Zentralbanken wollen den Märkten eine gewisse Sicherheit geben. Aber sie wollen auch nicht die Botschaft senden, dass sie wegen jeder Marktunruhe mit dem Ausstieg aufhören, wenn es der Inflationsausblick erfordert weiterzumachen. Das wird die Kommunikation der Zentralbanken einem echten Härtetest aussetzen.

Während die US-Notenbank Fed auf eine Drosselung ihrer Anleihekäufe („Tapering“) und womöglich erste Zinserhöhungen bereits im Jahr 2022 zusteuert, macht die Europäische Zentralbank (EZB) keinerlei Anstalten, die ultralockere Geldpolitik zurückzufahren. Was bedeutet es für die Weltwirtschaft und die Finanzmärkte, wenn die wichtigsten Zentralbanken der Welt auseinanderdriften?

Man muss das Bild ganzheitlich betrachten. Zunächst ist die Bedingung, unter der die Fed mit dem Ausstieg beginnen würde, eine starke US-Wirtschaft und letztlich damit auch eine starke Weltwirtschaft. Den USA und China geht es ziemlich gut. Das würde bedeuten, dass auch die Euro-Wirtschaft stärker dastehen würde, da sie von der globalen Entwicklung profitiert. Zudem würde man bei einem früheren Ausstieg der Fed erwarten, dass der Dollar aufwertet und der Euro abwertet. Und eine Abwertung des Euro führt zumindest für eine gewisse Zeit zu einem Aufwärtsdruck auf die Inflation im Euroraum. Das wäre für die EZB ein gutes Zeichen. Die asynchrone Reaktion könnte also weniger asynchron sein, als es scheint, weil die Bedingungen stärker angeglichen sind, als es vielleicht auf den ersten Blick aussieht.

Die EZB sorgt sich aber, dass steigende US-Zinsen auch die Euro-Renditen mitziehen könnten.

Natürlich wäre das Umfeld schwieriger, wenn es zu einer starken Verschärfung der finanziellen Bedingungen käme, bevor die Inflation in der Eurozone gestiegen ist und sich die Wirtschaft nachhaltig erholt hat. Das wäre aus Sicht der EZB nicht erwünscht. Die größte Herausforderung stellt eine Straffung der US-Geldpolitik aber weniger für den Euroraum als für die Schwellenländer dar, wie wir in unserem Jahreswirtschaftsbericht ausführen. Das könnte die Zentralbanken dort noch mehr in Bedrängnis bringen, und es könnte für sie zunehmend schwierig werden, nicht auch zu straffen – etwa aufgrund plötzlicher Kapitalabflüsse.

Wie sehen Sie die Interaktion zwischen Fiskalpolitik und Geldpolitik in der Zukunft? Ist die enge Kooperation in der Coronakrise die neue Normalität, oder wird es wieder eine striktere Trennung geben? Ex-EZB-Chefvolkswirt Ot­mar Issing sagt, dass die fiskalische Dominanz zumindest im Euroraum längst Realität sei, dass also die Geldpolitik an den Bedürfnissen der Fiskalpolitik und nicht am Ziel der Preisstabilität ausgerichtet wird.

Die sehr enge Übereinstimmung der Ziele von Geld- und Fiskalpolitik während der Pandemie ist eher die Ausnahme als die Regel. In Zukunft ist wieder mit mehr Spannungen zwischen den beiden Politikbereichen zu rechnen. Das hat vor allem damit zu tun, dass beide Politikbereiche längerfristig wieder normalisiert werden müssen, damit wieder Puffer aufgebaut werden und Handlungsspielraum zurückgewonnen wird. Wie bereits erwähnt, sind solche Puffer notwendig, um auf zukünftige Rezessionen oder unerwartete Ereignisse wie Pandemien reagieren zu können. Das wird dann automatisch dazu führen, dass die Interessen auseinanderdriften.

Das heißt konkret?

Auf der einen Seite wird fiskalpolitische Konsolidierung die wirtschaftliche Entwicklung dämpfen und damit Druck auf die Geldpolitik ausüben, länger akkommodierend zu bleiben. Auf der anderen Seite wird eine mit höheren Zinsen einhergehende straffere Geldpolitik die Kosten für den Schuldendienst der entsprechenden Regierung erhöhen und damit eine fiskalische Konsolidierung schwieriger machen. Die Fiskalpolitik hat ein Interesse daran, dass die Zinsen so lange wie möglich niedrig bleiben. Es könnte viel Druck auf die Zentralbanken ausgeübt werden, länger an einer expansiven Geldpolitik festzuhalten. Das Risiko der fiskalischen Dominanz besteht somit. Da gilt es sehr wachsam zu sein. Und das besonders, weil die Ausgangslage aus historischer Sicht einmalig ist.

Sie meinen die sehr niedrigen Zinsen und die sehr stark gestiegenen Staatsschulden?

Ja. Die Nominalzinsen waren noch nie so niedrig wie jetzt, und das meint seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch die Realzinsen waren noch nie so lange negativ wie jetzt, nicht einmal während der Zeit der Großen Inflation. Und die Zentralbankbilanzen waren noch nie so groß, außer in Kriegszeiten. Zugleich sind die Schuldenstände des öffentlichen Sektors sogar noch höher oder im Bereich der Niveaus wie im Zweiten Weltkrieg, was wiederum wahrscheinlich ein historischer Höhepunkt ist. Das ist also eine ziemlich paradoxe Situation: Die Schuldenstände sind außergewöhnlich hoch, aber die Kosten für den Schuldendienst sind außergewöhnlich niedrig. Die Aufgabe der Normalisierung wird also sowohl für die Fiskal- als auch für die Geldpolitik dieses Mal besonders langwierig und schwierig. Und natürlich wird diese Herausforderung der Normalisierung umso größer, je später dieser Prozess beginnt. Für die Regierungen besteht ein offensichtlicher Anreiz, sich weiter zu verschulden.

Zugleich wachsen die Erwartungen an die Zentralbanken schier ins Unermessliche: Inklusives Wachstum, soziale Ungleichheit, Klimawandel – bei all dem soll die Geldpolitik mehr tun. Ist damit die von Ihnen in der Vergangenheit befürchtete Überforderung der Geldpolitik und der Zentralbanken endgültig eingetreten?

Es ist wichtig, dass die Zentralbanken dem Leitstern ihres Mandats folgen. Das Mandat unterscheidet sich von Land zu Land, und deswegen gibt es auch Unterschiede, wie stark sie solche Themen berücksichtigen können. Aber es ist wichtig, strikt innerhalb des Mandats zu operieren. Es gilt dabei auch, die Grenzen der Geldpolitik anzuerkennen und zu respektieren. Nehmen Sie das Beispiel der Ungleichheit, also der Einkommens- und der Vermögensverteilung, dem wir ein eigenes Kapitel in unserem Jahreswirtschaftsbericht widmen. Die Botschaft ist da sehr klar: Die längerfristigen Trends bei der Ungleichheit haben strukturelle Ursachen und sind kein monetäres Phänomen. Sie müssen durch die Strukturpolitik und die Fiskalpolitik angegangen werden, um für einen gewissen Ausgleich zu sorgen. Soweit das möglich ist, können Zentralbanken innerhalb ihres Mandats der Preis-, Wirtschafts- und damit auch Finanzstabilität einen wichtigen Beitrag leisten. Und selbst in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass andere Politikbereiche, einschließlich Aufsichts- und Fiskalpolitik, ihre Rolle ausfüllen, um die Zielkonflikte für die Geldpolitik zu reduzieren.

Das Interview führte

BZ+
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