Gaskrise

Mehr Aufmerksamkeit für die „grauen Schwäne“

Gaskrise und Pandemie waren unwahrscheinlich, aber anders als „schwarze Schwäne“ nicht unvorhersehbar. Unternehmer, Banken und Sparkassen müssen auf Entwicklungen mit einer gewissen Erwartbarkeit und gravierenden Folgen achten.

Mehr Aufmerksamkeit für die „grauen Schwäne“

Es ist ein Allgemeinplatz, der jüngst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bestätigt wurde: Unsicherheit ist ein lähmendes Gift für die Wirtschaft. In kürzester Zeit ist viel durcheinandergeraten, durch den Krieg und zuvor schon durch die Corona-Pandemie. Zum Glück sind die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft nicht in Schockstarre verfallen, sondern haben die Ärmel hochgekrempelt: Der klassische Mittelständler hat für sich schnell Szenarien („Plan B“) durchgespielt: Was bedeutet der Krieg für mich? Wo bin ich betroffen, wo besonders verwundbar?

Planung erfolgt heute wohl oder übel mit einem höheren Grad an Unsicherheit, das sehen Unternehmer und auch die Kreditgeber. Die Kreditgeber halten gegenwärtig eben nicht die Taschen zu, sondern geben Kredit. Der Begriff kommt schließlich aus dem Lateinischen: Credere heißt vertrauen.

Ja, das ist eine Gratwanderung, die aber nicht als Leichtfertigkeit ausgelegt werden sollte. Der Vorsicht folgend haben sich sehr viele Unternehmen zusätzliche Liquidität gesichert, um nicht in eine mögliche Klemme zu geraten.

In der Vergangenheit war bei Veränderungen die Betroffenheit eher auf der Absatzseite gegeben: Wie steht die Branche da? Hat das Unternehmen die richtigen Produkte oder Dienstleistungen? Gibt es dafür genügend Nachfrage? Sind die Preise wettbewerbsfähig? Funktioniert der Vertrieb? Funktioniert der Service? Wie ist es um die Managementfähigkeit und die Qualifikation der Mitarbeiter allgemein bestellt? All diese Fragen wurden und werden regelmäßig im Gespräch mit den Finanzierungspartnern erörtert. Außerdem: Wie ist die Kapitalausstattung, wie die Kapitaldienstfähigkeit und die Unternehmensstrategie – wachsen oder weiter so?

Zeitenwende der Wirtschaft

In den vorangegangenen stabilen Wachstumsphasen der Wirtschaft gab es manche Herausforderung auch gar nicht: Strom und Gas kamen aus der Leitung, fehlende Mitarbeiter wurden eingeworben. Ja, es gab Knappheit, aber keinen Mangel. Heute sind vor allem die Beschaffungsmärkte durcheinandergeraten. So haben Mitarbeiter in der Pandemie einzelne Branchen scharenweise verlassen. Konsequenz bei so manchem Gastronomiebetrieb: konzentriertere Öffnungszeiten und mehr Selbstbedienung.

Lieferketten? Wer hätte sich vor Jahren Sorgen gemacht? Die einzige Sorge in der Vergangenheit war, nicht zum günstigsten Preis eingekauft zu haben. Lagerhaltung? Vielfach befand sich das Lager auf der Straße, just in time.

Heute hat Lagerhaltung wieder einen Stellenwert. Da bevorratet eine große Druckerei Zeitungspapier für drei Monate, ein großes Weingut Flaschen und Verschlüsse für die Produktion von zwei Jahresernten. Administrative Tätigkeiten waren ohne Büro fast undenkbar. Und heute ist ein hoher Anteil an Homeoffice eine Selbstverständlichkeit.

Noch vor kurzem waren viele der Ansicht, etwas Schlimmeres als die Corona-Pandemie könne nicht kommen. Sie wurden eines Besseren belehrt. Und Veränderungsnotwendigkeiten resultieren ja nicht nur aus den geopolitischen Verwerfungen: Digitalisierung, Klimawandel, Ressourcenknappheit, Demografie, all das hatten und haben Unternehmen zu berücksichtigen. Jetzt noch rasante Preissteigerungen und Zinsanstieg, die Konjunktur wackelt. Die Frage ist, ob der Konsum auf breiter Front einbricht und sich eine Insolvenzwelle aufbaut.

Kreditinstitute fragen heute gezielt nach Corona- und Ukraine-Betroffenheit, nach Energieabhängigkeit und Konformität mit den ESG-Vorgaben (Environment, Social, Governance). Banken und Sparkassen nehmen Überziehungen sehr kritisch unter die Lupe und achten auf die zeitnahe Offenlegung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Volle Auftragsbücher sind wichtig, aber wie aussagekräftig sind sie, wenn Aufträge mangels Mitarbeitern oder wegen Mangel an Vorprodukten gar nicht abgearbeitet werden können?

Die Zeitenwende umfasst viel mehr als nur den Krieg in der Ukra­ine. Und wir sehen, dass unsere Sparkassenkunden diesen Herausforderungen akribisch nachgehen. Regionale Wertschöpfung ist berechenbarer und gewinnt größere Bedeutung ebenso wie weiter verstärkter Technikeinsatz ausgelöst durch Arbeitskräftemangel. Transformation ist aktuell das ganz große Thema. Wie kann Energie gespart werden? Kann der Energieeinsatz kurzfristig flexibler gehandhabt werden? Kann auf erneuerbare Energien umgestellt werden?

Aus der Krise erwachsen Chancen für die Zukunft. Beispiele: Ein Großbäcker hat Mehrfachbrenner angeschafft, um nicht nur Gas, sondern auch Öl verfeuern zu können. Eine große Molkerei dreht den Gashahn ab und wechselt auf Öl und perspektivisch auf Strom aus Fotovoltaik.

In herausforderndem Umfeld sollte der Staat Bürokratie abbauen und für bessere Infrastruktur wie Verkehrswege und Netze oder zukunftsgerichtete Bildung sorgen. Und möge bitte keiner mit „schwarzen Schwänen“ kommen: Nach der Definition sind diese nicht nur selten, sondern unvorhersehbar, ich wiederhole: unvorhersehbar. Wo wir jetzt stehen, das war nicht unvorhersehbar. Es war unwahrscheinlich, aber nicht ausgeschlossen. Unternehmer, Banken und Sparkassen müssen ihre Aufmerksamkeit künftig verstärkt auf die „grauen Schwäne“ richten, auf Entwicklungen mit einer gewissen Erwartbarkeit und gravierenden Folgen. Wir alle werden gestärkt aus diesen Zeiten hervorgehen! Im Denken und im Handeln.

Bertram Theilacker ist Firmenkundenvorstand der Nassauischen Sparkasse Wiesbaden.

In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.