Post-Brexit

Schottland stolpert auf ein neues Referendum zu

Nicola Sturgeon hat das Thema Unabhängigkeit in Schottland erneut auf die Tagesordnung gesetzt. So kann sie verhindern, dass sich der Blick auf die traurige Bilanz ihrer Regionalregierung richtet.

Schottland stolpert auf ein neues Referendum zu

Von Andreas Hippin, London

Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hat mit einem neuen Weißbuch das Thema nationale Selbstbestimmung wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Die Loslösung von Restbritannien schien auf der Prioritätenliste der in Schottland regierenden Scottish National Party (SNP) nach unten gerutscht zu sein, nachdem es in Umfragen dafür keine Mehrheit mehr gab. Die Forderung nach Unabhängigkeit wird wieder lauter. Sturgeons einstiger Weggefährte und späterer Erzfeind Alex Salmond, der sich mit der Alba Party selbständig gemacht hat, fragte schon, wie sie die britische Zentralregierung denn dazu bewegen wolle, ihre Zustimmung zu dem von ihr für 2023 „ohne Wenn und Aber“ versprochenen erneuten Unabhängigkeitsreferendum zu geben. Denn ohne grünes Licht aus Westminster fände eine solche Volksabstimmung in einem rechtlichen Vakuum statt.

Enormes Haushaltsdefizit

Sturgeon gab sich kämpferisch und sagte, man werde notfalls auch ohne Zustimmung Londons ein weiteres Referendum abhalten. Angesichts dieser Entwicklungen lohnt sich ein Blick auf das wirtschaftliche Chaos, das die Nationalisten – zunächst unter Salmonds Führung, zuletzt unter Sturgeon – bereits angerichtet haben. Für die Europäische Union, bei der sie und ihre grünen Mehrheitsbeschaffer die noch nicht erkämpfte Souveränität teilweise wieder abgeben wollen, dürfte vor allem ein Wert interessant sein: Das Haushaltsdefizit Schottlands be­wegte sich im Fiskaljahr 2020/21 bei rund 22 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP), wie der „Spectator“ ausgerechnet hat. Mitglieder der Staatengemeinschaft sind eigentlich an­gehalten, es nicht über 3 % des BIP steigen zu lassen. Für die als Schuldenmacher bekannten Vereinigten Staaten lag der Vergleichswert übrigens bei 16 %. Bemerkenswerterweise spielt es keine Rolle, ob man die Einnahmen aus der Nordseeöl- und Gasförderung mit einbezieht. Schottland wies in den vergangenen 20 Jahren stets ein Defizit auf. Aber wer auch immer in Holyrood regiert, ist – dank „Devolution“, einer ziemlich verunglückten Strategie zur Übertragung von zusätzlichen Kompetenzen an die Regionen – überhaupt nicht gezwungen, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen.

Schottland gibt dem Institute for Fiscal Studies (IFS) zufolge 30 % mehr für öffentliche Dienstleistungen aus als England. Möglich wird das durch eine nach Joel Barnett, einem ehemaligen Staatssekretär im Schatzamt, benannte Umverteilungsformel, die es den Nationalisten ermöglicht, großzügig Wahlgeschenke zu verteilen. Sie wurde 1978 unter dem Labour-Premierminister James Callaghan eingeführt und sollte eigentlich nur ein bis zwei Jahre gelten. Der mittlerweile verstorbene Barnett wollte mit Hilfe der Formel lediglich kurzfristige Streitigkeiten im Kabinett über die Mittelverteilung schlichten und zudem den damals noch großen sozialen Unterschieden zwischen England und Schottland Rechnung tragen. Sie sei „unfair“ und „ein Fehler“ sagte er im Jahr des schottischen Unabhängigkeitsreferendums 2014. Doch wagte es keine Regierung, sie durch ein anderes Modell zu ersetzen, um den Zusammenhalt der Union nicht zu gefährden. Bezahlt werden die sozialen Wohltaten von den englischen Steuerzahlern, die auch noch Wales und Nordirland subventionieren. Für jedes Pfund, das in England ausgegeben wird, stehen dank der Barnett-Formel in Schottland 28,9 Pence zusätzlich zur Verfügung. Der Abstand sei damit so groß wie seit mindestens 15 Jahren nicht mehr, zitierte der „Telegraph“ David Phillips, den Autor des IFS-Berichts. Wie die unabhängige Denkfabrik zudem feststellte, planten die Nationalisten im vergangenen Jahr für die Be­kämpfung der Pandemie vorgesehene Mittel aus Westminster für kostenlose Mittagessen für Schüler oder kostenloses Busfahren für Schotten unter 22 Jahren umzuwidmen. Schließlich standen die Wahlen zum Regionalparlament vor der Tür.

Trotz alledem weist Schottland die höchsten Einkommensteuersätze im Vereinigten Königreich auf. Ab 2024 könnten sich die Unterschiede noch vergrößern, wenn der Eingangssteuersatz in Restbritannien von 20 % auf 19 % gesenkt wird. Was bekommen die schottischen Steuerzahler dafür? Die Lebenserwartung für heute geborene Männer ist mit 77 Jahren so niedrig wie sonst nirgends im Vereinigten Königreich. Sie ist im Vergleich zum Vorjahr um die 18 Wochen gesunken. Für Frauen liegt der Wert bei 81 Jahren – ein Rückgang von sechs Wochen. Der Abstand zwischen den Leistungen von Schülern aus den ärmsten und den wohlhabendsten Familien ist so groß wie nie zuvor. Das öffentliche Gesundheitswesen NHS liegt ebenso darnieder wie südlich der Grenze. Die Patientenzufriedenheit sinkt. Die Zahl der Drogentoten stieg derweil das siebte Jahr in Folge auf einen neuen Rekordwert.

Geht es um Industriepolitik, gibt es bei der SNP immer die Bereitschaft, in Projekte zu investieren, bei denen die Optik stimmt: Reindus­trialisierung und „grüne“ Arbeitsplätze. Die Wiederverstaatlichung des Bahnverkehrs führte in Schottland allerdings nicht etwa zu einem besseren Angebot für die leidgeprüften Passagiere. Stattdessen droht ihnen in der kommenden Woche der größte Eisenbahnerstreik seit drei Jahrzehnten. Der Stahlbaron Sanjeev Gupta, dessen Konglomerat GFG Alliance durch den Zusammenbruch von Greensill Capital in schweres Fahrwasser geriet, erhielt Reuters zufolge Staatsgarantien im Wert von gut einer halben Milliarde Pfund für eine defizitäre Aluminiumhütte, die gerade einmal 100 Mitarbeiter beschäftigt. Die schottische Regierung hatte die Abnahme von Strom aus einem damit verbundenen Wasserkraftwerk für 25 Jahre versprochen, was GFG Alliance ermöglichte, den Kauf der Hütte von Rio Tinto zu finanzieren. Und dann sind da noch die Fähren: Kurz vor dem Unabhängigkeitsreferendum hätte es schlecht ausgesehen, wäre auch noch die letzte private Werft am ­Clyde untergegangen. Also holte Salmond den schottischen Milliardär Jim McColl an Bord. McColl erwarb Ferguson Marine. Ein Jahr später erhielt das Unternehmen den Auftrag zum Bau von zwei Fähren. Geliefert wurden sie bis heute nicht. Doch trotz Pleiten, Pech und Pannen blieb nichts an Sturgeon haften. Solange keine Mehrheit gegen die Unabhängigkeit stimmt, wird das wohl auch so bleiben.

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