Pflicht statt Kür für Europas Märkte
Es gibt keinen Zweifel. Europa steht an einem Scheideweg. Jetzt gilt es, die Weichen zu stellen, welche Rolle die Kapitalmärkte Europas künftig spielen. Die Herausforderungen sind groß, denn die jetzigen Rahmenbedingungen sind nicht wettbewerbsfähig.
Betrachtet man die Struktur unserer Kapitalmärkte im internationalen Vergleich, so erkennt man schnell den dringenden Handlungsbedarf. Weniger als 10% der weltweiten Börsengänge fanden im letzten Jahr in der EU statt. Eine Hypothek für die Zukunft. Schon heute ist Europa mit einer Marktkapitalisierung von 52% gemessen am BIP weit abgeschlagen, in den USA sind es mehr als 140%.
Betrachtet man den Handel, so sieht das Bild nicht besser aus. Die EU hat entgegen ihrer politischen Zielsetzung heute die am wenigsten transparenten Aktienmärkte der führenden Industrienationen und dabei zugleich die höchste Fragmentierung. So wird nur noch knapp die Hälfte des Aktienhandels auf unserem Kontinent über transparente Marktplätze abgewickelt – im Vergleich zu zwei Dritteln oder mehr in den USA, Japan oder China. Gleichzeitig gibt es aber mehr als doppelt so viele Handelsplattformen in einem verglichen mit den USA nur halb so großen Kapitalmarkt.
Die gesellschaftliche Bedeutung der Kapitalmärkte wird inzwischen erkannt. Die Aktienmärkte finanzieren die Realwirtschaft, erlauben die Teilhabe am Wohlstandsaufbau für die Altersvorsorge und spielen eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der disruptiven Transformationen unserer Zeit, wie dem Klimawandel und der Digitalisierung. Mit der Kapitalmarktunion verfolgt die EU also die richtige politische Zielsetzung. Aber: Die Marktstruktur bestimmt die Mifid II/Mifir – das „Grundgesetz“ unserer Kapitalmärkte. Ihre Überprüfung steht jetzt an. Diese bietet die Gelegenheit, die Regulierung wieder in einen Einklang mit den politischen Zielsetzungen zu bringen und die Kapitalmärkte dem gesellschaftlichen Wohl zu verpflichten.
Transparenz fördern
Die G20-Staaten forderten bereits 2009 nach der Finanzkrise, dass die Transparenz, Stabilität und Integrität der Finanzmärkte durch neutrale Marktinfrastrukturen gestärkt werden muss. Mifid II/Mifir wollte dies erreichen. Doch nach mehr als drei Jahren muss die EU nun eine ehrliche Bilanz ziehen und nachjustieren. Denn leider hat das hochkomplexe und umfangreiche Gesetzespaket zu großen Schlupflöchern geführt, wie jetzt Datenerhebungen der ESMA bestätigen.
Inzwischen betreibt ein Großteil der vielen alternativen Plattformen in der Europäischen Union die „Internalisierung“ von Handelsaufträgen. Das bedeutet, dass ein Marktteilnehmer die attraktivsten Kundenorders gleich selbst ausführt, statt sie dem gesamten Markt zugänglich zu machen. Wie lukrativ dies ist, zeigt sich daran, dass ein solcher „systematischer Internalisierer“ bereits zur zweitgrößten Aktienhandelsplattform in Europa aufgestiegen ist. Mit weitreichenden Konsequenzen für die Transparenz. Statt Kundenaufträge auf neutralen Plattformen, die kein eigenes Handelsinteresse haben, in den Dienst transparenter Preisfindung zu stellen, werden sie nun vorher durch Marktteilnehmer selbst oder in „Dark Pools“ verwertet. Die Mifid lässt dies zu.
Die Geschäftspraktik, Kundenaufträge möglichst gewinnbringend zu kommerzialisieren, findet ihren Gipfel im sogenannten „Payment for Orderflow“. Hier werden die Kundenaufträge sogar meistbietend verkauft. Vor allem Retail- und Neo-Broker lassen sich dafür bezahlen, dass sie Orders stets zu einem bestimmten Handelsplatz schicken. Interessenskonflikte, die die „Best Execution“ für den Kunden in Frage stellen, sind die Folge.
Neutrale Preisfindung als Ziel
Kurz gesagt: Effiziente und neutrale Preisbildung, fairer Wettbewerb sowie transparente Interaktion zwischen den Marktteilnehmern im Interesse des Anlegers müssen die Säulen der Mifid-Überprüfung sein. Für mehr Transparenz reicht ein einfacher Ansatz: Der Handel auf nicht-transparenten Märkten sollte limitiert werden; nur große Transaktionen und solche oberhalb eines bestimmten Schwellenwertes dürfen ausgenommen bleiben. Das Ziel muss sein, zumindest wieder zwei Drittel des Handels in den Dienst der neutralen Preisfindung zu stellen – so wie dies in Amerika und Asien der Fall ist. Damit würde für alle Investoren der Preisbildungsprozess gestärkt.
Für ein faires Wettbewerbsumfeld sollten auch alle europäischen Ausführungsplätze Marktdaten mit vergleichbar hoher Qualität liefern. Denn die nicht-transparenten Ausführungsplätze stellen – anders als klassische Börsen – kaum öffentlich zugängliche, qualitativ angemessene oder zeitnahe Marktdaten bereit. Das wäre aber die Grundvoraussetzung für eine Datenkonsolidierung, die es für ein „Consolidated Tape“ wie von der Europäischen Kommission gefordert, braucht.
Schließlich müssen wir auch die Souveränität und Autonomie der EU und unserer Finanzmärkte stärken. Denn damit eine Kapitalmarktunion ihr volles Potenzial entfalten kann, müssen auch die nationalen Märkte in der EU stark sein. Nur die traditionellen Börsen bringen Unternehmen an die Börse – dieses Ökosystem muss gestärkt und nicht weiter geschwächt werden. Dementsprechend sollten aktuelle politische Überlegungen über eine vereinfachte Marktstruktur und ein gut funktionierendes Transparenzregime die Überlegungen zur Kapitalmarktunion vervollständigen.
Versäumen wir diese Gelegenheit, droht die EU in der Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit ihrer Kapitalmärkte noch weiter hinter ihre globalen Konkurrenten zurückzufallen. Stattdessen gilt es jetzt, das große und ungenutzte Potenzial starker europäischer Kapitalmärkte im Interesse der Gesellschaft und unserer Zukunftsfähigkeit zu heben.
Dr. Thomas Book ist Vorstand Trading & Clearing der Deutsche Börse AG.
In der Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.