LeitartikelUS-Berichtssaison

Wall Street lässt sich die Sinne benebeln

Stärker als erwartet ausgefallene Quartalszahlen der US-Unternehmen haben die Hoffnung geweckt, dass ein Abschwung ausbleibt. Doch den Ergebnissen der Berichtssaison mangelt es an Aussagekraft.

Wall Street lässt sich die Sinne benebeln

US-Berichtssaison

Durch den Nebel in den Abgrund

Von Alex Wehnert

Nach stärker als
erwartet ausgefallenen Ergebnissen zum ersten Quartal droht die
Wall Street in gefährliche Sorglosigkeit zu verfallen.

Die Berichte der US-Unternehmen zum ersten Quartal besitzen schon jetzt höchstens noch als historische Dokumente einen Wert. Denn anhand der Zahlenvorlagen werden spätere Anlegergenerationen nachvollziehen, in welcher Lage sich die amerikanische Wirtschaft befand, bevor US-Präsident Donald Trump sie ins heillose Chaos stürzte. Investoren lassen sich von den überwiegend positiven Ergebnissen aus dem Auftaktviertel indes schon die Sinne benebeln und beginnen zu glauben, dass die erwarteten heftigen Einschläge durch Washingtons Strafzölle gegen US-Handelspartner doch noch ausbleiben. Damit machen sie sich gefährlicher Sorglosigkeit schuldig.

Zittern vor neuen erratischen Ideen

Trump mag gegenüber Kernfeind China sanftere Töne angeschlagen und ein Abkommen mit Großbritannien geschlossen haben. Doch ist Peking durchaus weiter bereit für einen langgezogenen Handelskrieg, während der Deal zwischen Washington und London mitnichten einen Präzedenzfall oder gar eine Schablone für andere Einigungen schafft. Vielmehr hat der Republikaner mit seinem bisherigen Kurs das Vertrauen in die USA als Partner untergraben und die Kaufbereitschaft von zutiefst verunsicherten Unternehmenskunden und Verbrauchern erheblich eingeschränkt. Die Wirtschaft muss beständig vor neuen erratischen Ideen aus Washington zittern, wie die Zölle von 100% auf im Ausland produzierte Filme eindrucksvoll illustrieren, die der Mehrfach-Pleitier im Weißen Haus jüngst autorisiert hat.

Wirre Gedanken: US-Präsident Donald Trump sorgt mit seiner Handelspolitik in sämtlichen Wirtschaftszweigen für Unsicherheit. Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Jacquelyn Martin.

Dass Gewerkschaften zuvor Steueranreize gefordert hatten, um wieder mit ausländischen Drehorten wie Kanada oder Großbritannien konkurrieren zu können, und nun stattdessen mit den Auswirkungen von Kostenanstiegen entlang der Vertriebskette zurechtkommen müssen? Geschenkt. Denn „tariffs“ sind für Trump in jeglicher Lage zum Grundreflex geworden, um auf vermeintliche Ungerechtigkeiten in der Handelsordnung zu reagieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob sich Zölle auf intellektuelles Eigentum mit unklarem monetären Gegenwart technisch überhaupt umsetzen lassen.

Rückkaufprogramme im Zweifel

Hinzu kommt die von Trumps Beratern angepeilte strategische Abwertung des Dollar, die rein rechnerisch zwar positive Effekte auf die Bilanzen von Firmen in den Vereinigten Staaten haben sollte, aber zu massiven Statusverlusten für den amerikanischen Kapitalmarkt führen und der Federal Reserve neue geldpolitische Lockerungen erschweren wird. Dass sich die finanziellen Konditionen noch erheblich eintrüben werden, lässt erheblich an der Fähigkeit der US-Unternehmen zweifeln, ihre über die vergangenen drei Monate angekündigten rekordhohen Aktienrückkaufprogramme im Volumen von 518 Mrd. Dollar durchzuhalten. Statt solche vollmundigen Versprechungen zu machen, sollten sie angesichts ihrer mangelnden Prognosekraft lieber ihr Kapital zusammenhalten.

Für das erste Quartal des Kalenderjahrs 2025 haben laut dem Datendienst Factset bisher rund drei Viertel der Mitglieder des S&P 500 Zahlen vorgelegt; 62% von ihnen haben dabei mit ihrer Erlösentwicklung positiv überrascht, und sogar 76% haben einen stärkeren Gewinn pro Aktie vermeldet als erwartet. Doch jeglicher dadurch entfachte Optimismus muss sich bei Betrachtung der Ausblicke in Luft auflösen. Dass für das zweite Viertel bereits deutlich mehr Unternehmen mit einer negativen Entwicklung ihrer Überschüsse rechnen als mit einem Anstieg, ist dabei noch nicht einmal das Schlimmste.

Luftfahrt und Big Tech ohne Plan

Denn zahlreiche, auch führende Gesellschaften, von der Automobilbranche bis hin zum Luftfahrtsektor, sehen sich völlig außerstande, über Juni hinauszublicken. United Airlines gab zuletzt gleich zwei Prognosen ab: Für den Fall einer Rezession rechnet das Unternehmen mit einem Umsatzrückgang von 5% im Gesamtjahr und einem Gewinn von 7 bis 9 Dollar pro Aktie. Im Januar hatte United 11,50 bis 13,50 Dollar in Aussicht gestellt – diese Spanne will der Carrier noch erreichen, falls die Wirtschaft stabil bleibt und die Treibstoffpreise sich auf aktuellen Niveaus halten.

Auch die am globalen Aktienmarkt am stärksten im Fokus stehenden Werte, die Vertreter von Big Tech, haben bezüglich der Auswirkungen von Trumps Politik auf ihre Geschäfte noch keinen blassen Dunst. Alphabet hat wie üblich keine detaillierten Prognosen über Finanzkennzahlen geliefert, darüber hinaus hat das Spitzenmanagement selbst in Analystenschalten kein Wort über die Strafzölle und die Auswirkungen auf die Beziehungen zu chinesischen Werbekunden verloren. Bei Meta und Microsoft ist recht nebulös von „Makro-Unsicherheiten“ die Rede.

Nur Apple macht es konkret

Amazon äußert sich vorsichtig und will die Preise „auf eine Weise niedrig halten, die ökonomischen Sinn ergibt“. Der Online-Riese generiert mehr als 60% der Erlöse aus dem E-Commerce über Drittparteienhändler, die viele ihrer Produkte aus China beziehen. Elon Musks sonst gerne mit viel zu offensiven Absatzprognosen vorpreschende Tesla hat ihren Ausblick zurückgehalten. Lediglich Apple macht es konkret: Laut CEO Tim Cook dürften Trumps Strafzölle die Kosten für den iPhone-Hersteller im laufenden Quartal um 900 Mill. Dollar treiben. Das Ende der Fahnenstange dürfte damit noch lange nicht erreicht sein, auch wenn sich die Märkte schon wieder im Rally-Modus befinden. Vielmehr droht die Wall Street durch den Zollnebel in den Abgrund zu rasen.

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