Strategische Souveränität

Europa sucht seine Stärken

In der EU wird schon lange eine stärkere Souveränität und eine offene strategische Autonomie gefordert. Die Abhängigkeiten, die der russische Angriffskrieg noch einmal schmerzhaft offengelegt hat, geben der Debatte nun eine neue Dynamik.

Europa sucht seine Stärken

Verletzlich wie vielleicht noch nie in ihrer jahrzehntelangen Ge­schichte erscheint die Europäische Union seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine. Auf einen archaischen Angriffskrieg war man in Brüssel nicht vorbereitet. Und dass Gaslieferungen, die selbst in kältesten Kalter-Krieg-Zeiten nie unterbrochen wurden, plötzlich als strategische Waffe gegen die EU eingesetzt wurden, hat viele dann ebenfalls völlig auf dem falschen Fuß erwischt. „Der Krieg Russlands in der Ukraine hat fast schockartig die systemische Abhängigkeit speziell Deutschlands von russischer Energie gezeigt und die Illusion einer konfliktlosen, machtfreien Globalisierung abrupt beendet“, bringt es der Ökonom Henning Vöpel, Direktor des Thinktanks Centrum für Europäische Politik (Cep), auf den Punkt.

Konfrontative Sicherheitsordnung

Seither werden in Brüssel und den anderen europäischen Hauptstädten fieberhaft Antworten sondiert, wie sich die EU aus den zahlreichen Umklammerungen lösen und wieder handlungsfähig werden kann. „Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Debatte um die strategische Souveränität Europas verändert“, betonten kürzlich Claudia Major und Nicolai von Ondarza von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer ausführlichen Analyse. In dieser nunmehr konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung sei eine kluge Refokussierung auf eine europäische strategische Souveränität auch „notwendiger denn je“.

Dabei geht es längst nicht nur um die Energie- und Verteidigungspolitik. Cep-Direktor Vöpel verweist darauf, dass sich die Debatte nun auch auf geoökonomische Abhängigkeiten speziell von China ausweitet, das seine langfristigen geopolitischen Absichten sehr deutlich formuliert habe. Es geht also auch um Daten, um Rohstoffe und um handelspolitische Einflusssphären. Wenig verwunderlich hat daher auch für den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die „europäische Souveränität“ eine neue Dringlichkeit in der Europapolitik erhalten.

Ende Oktober legte der Verband ein Positionspapier zu dem Thema vor, in dem darauf verwiesen wurde, dass es vor dem Hintergrund des Krieges derzeit bereits eine „tiefgreifende Neubewertung“ in den verschiedensten politischen Bereichen gebe. Unternehmen und Wirtschaftspolitik müssten sich auf die massiv veränderte Lage einstellen. „Die EU und ihre Unternehmen können sich nicht auf den Goodwill autokratischer Staatenlenker verlassen. Nicht erst mit dem Krieg Russlands in der Ukraine treten strategische Abhängigkeiten zum Vorschein“, warnte der BDI.

Es geht um mehr Souveränität und geopolitische Handlungsfähigkeit und um das Konzept einer „offenen strategischen Autonomie“ der EU. Die Debatte läuft schon seit einigen Jahren, ursprünglich nur bezogen auf den Sicherheits- und Verteidigungssektor. Mit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im Jahr 2016, seiner folgenden Abkehr von Multilateralismus und der bisherigen transatlantischen Partnerschaft sowie seinen Alleingängen gegenüber dem Iran erhielt die Diskussion um mehr europäische Eigenständigkeit dann aber einen breiteren Fokus. Zu den Kernforderungen der aufsehenerregenden Sorbonne-Rede des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron 2017 gehörte dann schon ein „souveränes Europa“.

Es folgten Debatten über die Wettbewerbspolitik und über europäische Champions. Und die Pandemie hat dann schließlich noch ganz andere Abhängigkeiten sowie die Anfälligkeit von globalen Lieferketten offengelegt. Und in Brüssel setzte sich mehr und mehr das Narrativ durch: Wir sind bislang zu naiv gewesen. Wir müssen uns mehr auf eigene Stärken besinnen. Der russische Angriffskrieg scheint dieses Narrativ jetzt mehr als bestätigt zu haben.

„Wir sind nicht Nordkorea“

Die Bundesregierung hat das Streben nach mehr strategischer Souveränität der Europäischen Union stets unterstützt. Eine solche bedeutet laut Koalitionsvertrag in erster Linie „eigene Handlungsfähigkeit im globalen Kontext herzustellen und in wichtigen strategischen Bereichen, wie Energieversorgung, Gesundheit, Rohstoffimporten und digitaler Technologie, weniger abhängig und verwundbar zu sein, ohne Europa abzuschotten“.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellte dabei in seiner Europa-Rede im August in Prag klar: „Wirtschaftliche Unabhängigkeit heißt nicht Autarkie.“ Das könne nicht das Ziel Europas sein, das immer von offenen Märkten und Handel profitiert habe und weiter profitiere. „Aber auch wir brauchen einen ‚Game Plan‘, so etwas wie eine Strategie ‚Made in Europe 2030‘“, betonte der Kanzler. „Für mich heißt das: Dort, wo Europa verglichen mit dem Silicon Valley, Shenzhen, Singapur oder Tokio zurückliegt, werden wir uns an die Spitze zurückkämpfen.“

EU-Ratspräsident Charles Michel hatte schon vor Kriegsausbruch drei Ziele definiert, die eine strategische Autonomie der Union verfolgen sollte: Stabilität – vor allem auch wirtschaftliche –, Verbreitung von EU-Stan­dards sowie Förderung der europäischen Werte. Michel gehört allerdings zu denen, die glauben, dass die EU-Stärke schon heute unterschätzt wird – auch intern. „Europa hat die unglückliche Angewohnheit, sich selbst zu geißeln, selbst wenn es entschiedene Maßnahmen ergreift“, begründet dies der Belgier. Die Realität sei jedoch, dass die hitzigen Debatten und offensichtlichen Konfrontationen innerhalb der EU auch fester Bestandteil der europäischen Entscheidungsfindung seien. „Das ist etwas, worauf wir stolz sein können“, so Michel in einer Rede ein halbes Jahr nach Ausbruch der Pandemie. „Wir sind nicht Nordkorea. Wir sind eine Gruppe von Demokratien, in denen öffentliche Debatten die Legitimität unserer Entscheidungen garantieren.“

Und tatsächlich hat die EU ja auch nach dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine Ende Februar Stärke und Handlungsfähigkeit demonstriert: Die klare, schnelle und harte Sanktionspolitik dürfte auch den Kreml überrascht haben. Bereits zwei Wochen nach Kriegsausbruch debattierten die europäischen Staats- und Regierungschefs auf einem informellen Gipfel über eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeiten, die Verringerung der Energieabhängigkeiten und den Aufbau einer robusteren wirtschaftlichen Basis. Ebenfalls noch im März wurde unter dem Eindruck des Angriffs auf die Ukraine der „Strategische Kompass“ der EU überarbeitet. Beschlossen wurde ein effektiveres Krisenmanagement im Verteidigungsbereich und der Aufbau einer schnellen Eingreiftruppe mit 5000 Mann.

Zwar hat die EU bereits seit rund 20 Jahren eine Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP). Aber die Frage, welche Rolle die EU in diesem Bereich neben der Nato spielen soll, ist weiter nicht klar beantwortet. Die in Berlin ansässige Stiftung Wissenschaft und Politik hat im Oktober in einer Studie allerdings festgestellt, dass angesichts der realen Bedrohung durch Russland 2022 noch einmal deutlich geworden sei, „dass die EU keine zentrale Rolle für die territoriale Verteidigung ihrer Mitglieder spielt“ – trotz der im EU-Vertrag enthaltenen Beistandsklausel im Falle eines Angriffs. „Die meisten ihrer Mitglieder, gerade in Mittel- und Osteuropa, lehnen eine stärkere Rolle der EU in der Verteidigungspolitik ab“, so die SWP-Analysten, die einen Mehrwert der EU auch eher in einer industriellen Zusammenarbeit im Militärbereich und in einer gemeinsamen Beschaffungspolitik sehen.

Achillesferse Verteidigungspolitik

„Insgesamt bleibt die Verteidigungspolitik damit auch und gerade im Schatten des russischen Angriffskriegs die Achillesferse der strategischen Souveränität der EU“, heißt es in der SWP-Studie. Obwohl die Union mit den schnell verabschiedeten und intern koordinierten Sanktionspaketen, mit der Koordinierung und Regulierung des europäischen Energiemarkts und der Wahrung des europäischen Zusammenhalts ein wichtiger Sicherheitsakteur geworden sei, bleibe sie in der Verteidigungspolitik „ein Nebenakteur“.

Aber auch in der Energiepolitik hat sich seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine sehr schnell sehr viel getan: Zwei Wochen nach Kriegsausbruch legte die EU-Kommission schon erste Pläne für das neue Programm „Repower EU“ vor, mit dem die Abhängigkeit insbesondere von russischen Erdgaslieferungen so schnell wie möglich verringert und mittelfristig ganz beendet werden soll. Mittlerweile ist das Gesetzgebungsverfahren schon abgeschlossen, und den EU-Mitgliedsstaaten stehen über den Wiederaufbaufonds weitere Milliarden für eine noch schnellere Energiewende zur Verfügung.

Auch in anderen kritischen Abhängigkeitsbereichen gibt es – ganz unabhängig vom Krieg – schon erste Schritte in Richtung einer neuen Autonomie: Die Verständigung der EU-Gesetzgeber in diesem Jahr auf das Gesetz über digitale Dienste (DSA) und das Gesetz über digitale Märkte (DMA) soll der EU auch ein Stück weit digitale Souveränität gegenüber den großen US-Technologiekonzernen zurückgeben. Die kritische Versorgung mit Halbleitern soll mit dem Chips Act garantiert werden, den die EU-Kommission in diesem Jahr vorgelegt hat. Die Europäische Rohstoffallianz (ERMA) soll helfen, die Verfügbarkeit bei wichtigen Rohstoffen zu stabilisieren. Die in diesem Monat abgeschlossene Modernisierung des Handelsabkommens mit Chile hilft der EU insbesondere bei der Lithium-Versorgung. Und bei der schon 2017 gegründeten Batterie-Allianz sind ebenfalls schon Ergebnisse zu sehen.

Suche nach neuen Verbündeten

Für den BDI ist nur konsequent, dass die deutsche und die europäische Wirtschaftspolitik auf die veränderte Sicherheitslage reagiert. Es sei schon länger nicht mehr davon auszugehen, dass sich weitere Staaten und Regionen einem regelbasierten Weltwirtschaftssystem auf absehbare Zeit anschließen würden, heißt es in dem jüngsten Positionspapier des Verbands. „Somit dürfte es zur Koexistenz konkurrierender Wirtschaftsmodelle auf der Welt kommen. Damit gehen ernst zu nehmende Befürchtungen einher, dass sich zusätzlich zu Abschottungstendenzen auf heimischen Märkten vermehrt eine Konkurrenz bei Marktzugängen in Drittstaaten entwickeln wird.“

In diesem Kampf der Systeme geht es für die Europäische Union verstärkt auch darum, verlässliche neue Verbündete zu finden. Dass die EU nach Jahren des Stillstands auf einmal den Beitrittskandidaten im Westbalkan wieder mehr Aufmerksamkeit widmet, hat damit zu tun. Dass die Ukraine, Moldau und Georgien europäische Perspektiven erhalten. Dass der jüngste EU-Gipfel über die südlichen Mittelmeeranrainer gesprochen hat. Dass die ASEAN-Staaten verstärkt umgarnt werden. Und auch die Gründung der neuen Politischen Gemeinschaft, der auch Länder wie Großbritannien, die Türkei und die Schweiz angehören, hat damit zu tun, die bestehenden Partnerschaften zu verfestigen.

Mit der Rückkehr der Geopolitik in die Globalisierung steigt nach Einschätzung von Cep-Direktor Vöpel aber auch die Bedeutung der Industriepolitik. Und mit dieser kehrten zugleich Subventionswettläufe, Abhängigkeiten zwischen Staat und Industrie sowie eine Lockerung des Beihilferechts zurück. Diese Einschätzung teilt auch Niclas Poitiers, Fellow am einflussreichen Brüsseler Thinktank Bruegel, insbesondere seit den jüngsten Ankündigungen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, wie Europa auf das umstrittene US-amerikanische Inflationssenkungsgesetz (IRA) reagieren soll. Eine Aufweichung von Wettbewerbs- und Beihilferecht sieht Poitiers aber skeptisch – wurden die Regeln doch eigentlich zur Stärkung des Binnenmarktes konzipiert.

Aber vielleicht setzt sich ja auch noch der Gedanke durch, den Bundeskanzler Scholz in seiner Europa-Rede in Prag geäußert hatte. Basis für die erheblichen privaten Investitionen in die Transformation der Wirtschaft seien ein starker und liquider EU-Kapitalmarkt und ein stabiles Finanzsystem, sagte er. Und eine Stärkung der Kapitalmarkt- und die Bankenunion seien zugleich auch Schritte hin zu europäischer Souveränität.

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