Rekordzahlen

Die anomalste Krise der russischen Geschichte

Russland befindet sich seit einem Jahr in einer Rezession. Die jetzige allerdings unterscheidet sich fundamental von früheren Krisen. Vor allem an einer Kennzahl lässt sich ablesen, was 2022 anders lief.

Die anomalste Krise der russischen Geschichte

Will man den Zustand der russischen Wirtschaft und ihre Interaktion mit dem Westen ein Jahr nach Beginn des Ukraine-Krieges an einem Beispiel erfassen, nimmt man am besten den Gaskonzern Gazprom unter die Lupe – mit seinen knapp 500000 Mitarbeitern einer der größten russischen Steuerzahler. Kaum ein zweites Unternehmen aus Wladimir Putins Reich bildet die Verwerfungen und diesbezüglichen Komplexitäten anschaulicher ab.

Rekordgewinn für Gazprom

Da ist zum einen das Exportvolumen, das infolge der westlichen Abkehr vom russischen Lieferanten und dessen proaktiver Drosselung im vergangenen Jahr laut Konzernangaben um 46% gefallen ist. Da sind die Einnahmen, die im selben Zeitraum nach Reuters-Berechnungen den Rekordwert von 80 Mrd. Dollar erreicht haben könnten, weil die hohen Preise das geringe Volumen mehr als kompensiert und bereits im ersten Halbjahr zu einem Rekordgewinn von 34 Mrd. Dollar (2,5 Bill. Rubel) geführt hatten. Und da ist die verbliebene Co-Abhängigkeit, die dazu führt, dass Europa vor dem nächsten Winter bereits Angst hat, obwohl es ohnehin nur noch ein Viertel seines importierten Gases aus Russland bezieht. Gazprom sieht daher mageren Jahren entgegen, nachdem die Exporteinnahmen diesen Januar bereits auf 3,4 Mrd. Dollar gegenüber 6,3 Mrd. Dollar im Januar 2022 eingebrochen sind.

Ist diese Gemengelage schon paradox genug, so zeigt sich an Gazprom aber auch noch eine Anomalie, die Russlands Wirtschaft in früheren Krisenjahren so nicht gekannt hat und die die jetzige Krise so einzigartig wie verblüffend macht: Gazprom investiert derzeit so viel wie nie. Im Oktober wurde das Investitionsprogramm um 70% gegenüber demjenigen aus 2021 erhöht. Und für 2023 ist eine Ausweitung des Programms um weitere 30% angepeilt.

Kann man diese Entwicklung bei Gazprom aufgrund der temporären Übergewinne noch leicht erklären, so ist dies bei einer ähnlichen Anomalie in der Gesamtwirtschaft schon nicht mehr ganz so einfach. Das Bruttoinlandsprodukt nämlich ging im vergangenen Jahr einer ersten Schätzung des Statistikamtes Rosstat zufolge um 2,1% zurück. In der Regel gilt das als Indikator dafür, dass die Investitionen noch stärker einbrechen werden – weil die Binnennachfrage sinkt, ausländische Unternehmen weggingen und sich die inländischen in einer ungewissen Situation befinden. So geschah es auch in den früheren Krisen in Russland 2009 (Finanzkrise) und 2015 (erste Sanktionen infolge der Krim-Annexion 2014). Brach damals das BIP um 7,8% bzw. um 3,7% ein, so fielen die Investitionen im ersteren Fall doppelt und im letzteren Fall viermal so stark, wie Daten von Bloomberg Economics zeigen.

Ganz anders im vergangenen Jahr: Da legten die Investitionen trotz BIP-Rezession unter dem Strich um 6% zu, obwohl das Wirtschaftsministerium bald nach Kriegsbeginn noch einen Rückgang um bis zu 20% pro­gnostiziert hatte. „Russlands Rezession ist anders als alle anderen zuvor“, erklärte Alexander Isakow, Russland-Chefökonom bei Bloomberg Economics. „Bei einem typischen Abschwung werden die privaten Investitionen am stärksten getroffen, während der Konsum der Haushalte weniger stark zurückgeht. Diesmal nicht.“

Der Grund für die atypische Krise besteht vor allem darin, dass Russland 2022 förmlich im Geld schwamm. Dabei hat der Nettoabfluss von Privatkapital nach Berechnungen der Zentralbank satte 250 Mrd. Dollar betragen, was etwa 12% des Bruttoinlandsproduktes entspricht und einen Rekordwert in der gesamten Geschichte des Landes darstellt. Allein, der exorbitante Handelsbilanzüberschuss von 280 Mrd. Dollar hat diesen Umstand vollauf kompensiert. Aus dem russischen Zollamt verlautete, dass der Wert des gesamten Warenexports um 18% auf das absolute Rekordniveau von 580 Mrd. Dollar gestiegen ist. Allein die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport sind Schätzungen des Wirtschaftsministeriums zufolge auf etwa 337 Mrd. Dollar gegenüber 245 Mrd. Dollar im Jahr 2021 hochgeschnellt, weil die Preise explodiert waren und es Russland gelungen war, die Exportströme zumindest zum Teil von Europa weg nach Asien umzu­lenken.

Das schuf die finanzielle Basis für höhere Ausgaben. Zu einem beträchtlichen Teil wurden sie vom Staat angeschoben, der generell das Füllhorn ausschüttete, nachdem er seine vorherige Sparmentalität aufgegeben und sich mit einem Handstreich etwa von Gazprom mehr als 1,5 Bill. Rubel (etwa 20 Mrd. Dollar) des Reingewinns als Sonderdividende geholt hatte. Die Staatsausgaben seien um 26% gestiegen, schreibt Oleg Wjugin, Ökonom und Ex-Vizechef der russischen Zentralbank, in einer Analyse: „Die zusätzliche Finanzierung hat sich auf etwa 5,5 Bill. Rubel belaufen.“

Natürlich floss nur ein Teil davon in Investitionen. Aber gerade in der Rüstungsindustrie oder in der Bauindustrie, die vom staatlichen Stützungsprogramm für Hypothekarkredite befeuert wurde, waren sie spielentscheidend.

Fettes Polster

Doch nicht nur, was im Kriegsjahr 2022 aufgrund der lukrativen Exporte zusätzlich verdient wurde, stand plötzlich für Investitionen bereit. Die Unternehmen selbst – auch darauf weist Wjugin hin – waren schon mit einem fetten Polster in das Kriegsjahr gestartet. Der Grund lag in der starken Erholung nach dem Covid-Jahr 2020, die dazu führte, dass das Wirtschaftswachstum Ende 2021 knapp 5% erreichte. Als Folge davon übertrafen die Finanzergebnisse der Unternehmen die Werte des Jahres 2020 um das Dreifache. Erst im dritten Quartal 2022 begannen die Gewinne zu schrumpfen. Laut russischer Zentralbank hat die überwiegende Mehrheit der Unternehmen ihre Investitionen im Jahr 2022 entweder erhöht oder auf demselben Niveau belassen.

Doch in welche Investitionen floss das Geld eigentlich? Wie die Zentralbank in ihrem diesbezüglichen Bericht festhält, ging es einerseits um die erfolgreiche Fortführung jener Projekte, die schon vor Kriegsbeginn konzipiert und initiiert worden waren. Und andererseits um die Umgestaltung von Wirtschaftsbeziehungen und technologischen Prozessen sowie den – staatlich gewollten, aber auch privatwirtschaftlich initiierten – Aufbau einer eigenen Produktion zur Substitution des sanktionsbedingt rückläufigen Imports.

In der Region Pskow etwa, im Westen Russlands nahe der Grenze zu Estland, wurde mit dem Bau einer Fabrik für Industriebatterien begonnen, um den Anteil des Imports in diesem Segment um ein Viertel zu reduzieren. Im zentralrussischen Tschuwaschien an der Wolga beginnt ein Chemiewerk mit der Produktion von Wasserstoffperoxid, die den inländischen Bedarf vollauf decken sollte. In Südrussland wird am Aufbau eines Clusters zur Traktorenproduktion gearbeitet. Und nahe Moskau laufen bereits neue Produktionsanlagen für hydraulische Geräte und Medikamente. Gemein ist diesen Projekten, dass sie sich in erster Linie als Antwort auf die neuen Bedingungen verstehen, um den rückläufigen Import aufgrund von Sanktionen zu kompensieren. Die Zentralbank spricht denn auch von einer „umgekehrten Industrialisierung“.

Die Bergbauindustrie, traditionell herausragend bei den Investitionen, deckte auch im vergangenen Jahr mehr als ein Fünftel von ihnen ab. In die Logistik wurde ebenfalls viel Geld gesteckt, weil die Warenströme aufgrund der Sanktionen umgelenkt werden mussten – und zwar weg vom Westen Richtung Süden und Osten. Das betrifft auch die heimische Ölindustrie und den Gasriesen Gazprom, dessen neues Investitionsprogramm auf neue Produktionszentren in Ostsibirien und Gaspipelines für den Binnentransport sowie den Export abzielt.

All diese Trends aus 2022 werden künftig freilich nichts daran ändern, dass sich die anomale Krise, die von der Mobilisierung der Geldschwemme gekennzeichnet war, in diesem Jahr in eine gewöhnliche Krise verwandeln dürfte, wie das Gros der Ökonomen meint. Weil die Exporteinnahmen sinken, werde das Budgetdefizit chronisch werden und der Rubel abwerten, worunter dann auch die Binnennachfrage leide, schreibt Oleg Itskhoki, russischstämmiger Ökonom an der University of California, in einer Analyse. Und auch bei den Investitionen werde sich der Trend umkehren.

Von Eduard Steiner, Moskau

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