Anleihemärkte

Zinssteigerungen sind für Staaten verkraftbar

Die Zinssteigerungen in der Eurozone sind grundsätzlich verkraftbar. Die staatlichen Schuldner aus den Industrieländern stecken in einer Wirtschaftskrise, aber noch nicht in einer Finanzkrise.

Zinssteigerungen sind für Staaten verkraftbar

Von Ulrich Kater*)

Noch vor einem Jahr hat es geheißen, dass die hohe Verschuldung von Unternehmen und Staaten nur bei extrem niedrigen Zinsen verkraftbar sei. Im Mittelpunkt stehen Europas Staatsfinanzen, bei denen die griechische Schuldenkrise von 2011 noch in Erinnerung ist. Mittlerweile hat es einen Jahrhundert-Zinsschock gegeben. In den USA sind die Kapitalmarktzinsen für die besten Bonitäten binnen 18 Monaten um 3 Prozentpunkte gestiegen, ebenso im Euroraum, obwohl von niedrigerem Niveau aus. Und doch wanken die Finanzmärkte nicht. Noch ist die gegenwärtige Krise für die staatlichen Schuldner der Industrieländer eine Wirtschaftskrise, genauer gesagt eine Energiekrise, aber keine Finanzkrise.

Auf den ersten Blick hat sich auch die Lage der Staatsverschuldung nach dem starken Anstieg während des Corona-Ausbruchsjahres etwas entschärft. Im Durchschnitt aller westlichen Industrieländer schrumpfte die Staatsschuldenquote von einem Hochpunkt von 132% Ende des Jahres 2020 auf 124% Mitte dieses Jahres. Italien verringerte seine Staatsschulden in Relation zur Wirtschaftsleistung von 175 auf 154%, Deutschland von 75 auf 69%. Im Durchschnitt des Euroraums lag der Wert „nur“ noch bei 106% nach 120% gut ein Jahr zuvor. Hier zeigt sich, wie stark der Verschuldungsgrad eines Staates nicht nur von der Schuldenaufnahme, sondern eben auch von der Wirtschaftsleistung abhängig ist, deren Erholung nach den Coronaeinbrüchen den wichtigsten Faktor für diese fiskalischen Erleichterungen darstellte. Eigentlich hätte der Konsolidierungskurs von hier aus weitergehen können. Der Krieg, mit dem Russland seit Februar das Nachbarland Ukraine überzieht, hat jedoch auch diese Erholungsperspektive zerstört.

Teure Programme

Nicht nur die Coronaprogramme waren teuer. Nun wird die Finanzpolitik gegen die nächste Krise in Stellung gebracht. Deutschland hat bereits ungefähr 300 Mrd. Euro reserviert, das sind auf zwei Jahre betrachtet etwa jeweils 4% in Relation zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Lauter Protest aus anderen europäischen Ländern war die Reaktion, aber erstens ist Deutschland wegen seiner hohen Energieabhängigkeit besonders von Verwerfungen am Gas- und Strommarkt betroffen, und zweitens haben auch andere europäische Länder Ausgleichsprogramme gestartet und dafür die Schuldenmaschine angeschmissen. In Deutschland werden nun für das laufende Jahr 3,3% Defizit in Relation zum BIP erwartet, statt 2,3% zu Jahresbeginn. In Frankreich erhöhen sich die Defiziterwartungen von 4,4 auf 5,1%. Italien erwartet unverändert einen Haushaltsfehlbetrag von 5,4%.

Unabhängig davon, dass sich die Defiziterwartungen nur moderat verschlechtert haben, stellt sich an den Märkten angesichts rasant steigender Zinsen wieder einmal die Frage nach den Grenzen für die Verschuldung – auch für Industrieländer. Die Arithmetik hierfür ist immer noch die gleiche. Die Schuldenstandsquote sinkt, wenn der Zinssatz sinkt, das reale Wachstum steigt, die Inflation steigt oder sich der Primärsaldo (Staatshaushalte ohne Zinszahlungen) verbessert. Der Einfluss des Zinssatzes, der Wachstumsrate und der Inflation ist umso größer, je höher die Schuldenstandsquote im Vorjahr war. Hier zeigt sich ein ernstes Problem der Hochschuldenländer: Hohe Zinsen, eine Rezession oder sinkende Preisniveaus lasten dort auf der Schuldenentwicklung viel stärker als in Ländern mit einer geringeren Belastung. Dieser Sachverhalt wird gerne auch mit dem Begriff Schneeballeffekt umschrieben, weil es mit steigenden Schulden immer schwieriger wird, diese zu reduzieren.

Mehr noch als die augenblickliche Ausprägung dieser Variablen zählen für das Vertrauen in die Staatsfinanzen die Erwartungen über ihre künftige Entwicklung. Würde etwa Italien eine von 2 auf 4% gestiegene durchschnittliche Verzinsung ausgleichen, also die Schuldenquote konstant halten wollen, so müsste es in den kommenden Jahren entweder einen Primärhaushaltsüberschuss von 0,4% des BIP erwirtschaften oder ein jährliches Wachstum von 2,5% erreichen. Deutschland könnte sich immer noch ein Primärdefizit von 1,3% oder wahlweise eine Stagnation der Wirtschaftsleistung leisten.

Schuldenquoten sinken

Neu in allen Berechnungen der vorigen Jahre über die Tragfähigkeit der europäischen Staatsfinanzen ist die Inflationskomponente. In der Vergangenheit stellten extrem niedrige Inflationsraten einen Bremsklotz für das nominelle Wachstum der Volkswirtschaften dar. Das wird sich zumindest für 2022 und 2023 ganz anders darstellen: Der beschleunigte Preisauftrieb dieses Jahres wird dazu führen, dass sich die Zahlen für das nominale BIP in den Ländern des Euroraums rein inflationsbedingt um 6% und mehr ausdehnen. Diese monetäre Aufblähung führt zu einer durchaus spürbaren Senkung der Schuldenquoten. Der Nenner in der Schuldenquote steigt an, gleichzeitig wirken höhere Staatseinnahmen dämpfend auf die Defizite.

Schließlich muss die Beurteilung der Schuldentragfähigkeit auch die institutionelle Einbindung einer Volkswirtschaft in das Währungssystem berücksichtigen. Alle Mitgliedsländer der europäischen Währungsunion unterliegen einer Art von Schuldenaufsicht durch die Europäische Kommission. Noch wesentlich bedeutsamer sind die in der Zeit der Eurokrise entwickelten Kreditmechanismen zwischen den Mitgliedsländern, die heute durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus verwaltet werden. Hierzu sind in der Coronazeit Finanzhilfen durch Fonds auf EU-Ebene hinzugetreten, die insbesondere die hoch verschuldeten Mitgliedsländern Entlastungen ihrer Staatshaushalte bescheren.

Schließlich hat auch die Europäische Zentralbank Fazilitäten aufgesetzt, die mögliche spekulative Attacken an den Staatsanleihemärkten effektiv verhindern können. Für Kritiker der gegenwärtigen fiskalischen Aufstellung innerhalb der Währungsunion sind all diese Instrumente entweder dysfunktional, grundsätzlich falsch oder zumindest zwischen Rechten und Pflichten völlig falsch austariert. Trotzdem bildet dieses System, so unvollkommen es auch daherkommen mag, für die meisten Finanzmarktteilnehmer ein glaubwürdiges Regime für die Schuldenentwicklung der Euro-Mitgliedstaaten.

Vertrauen gestärkt

Gerade die jüngste Einführung von Transfermechanismen hat in den vergangenen Quartalen zu einer Stärkung des weltweiten Vertrauens in die Stabilität der europäischen Schuldenaufstellung geführt. Dieses Vertrauen hängt allerdings vollständig von der politischen Unterstützung für diese Art europäischer Finanzpolitik ab. Diese wird weiter ein schwieriger Balanceakt bleiben, etwa bei der anstehenden Neuformulierung der Schuldenregeln. Gelingt ein politischer Ausgleich der Interessen, dann ist das europäische Schuldengebäude sehr belastbar, auch bei steigenden Zinsen. Wohin dagegen eine unglaubwürdige Schuldenpolitik führt, war in den vorigen Wochen am britischen Finanzmarkt eindrucksvoll sichtbar.

*) Ulrich Kater ist Chefvolkswirt der DekaBank.