Sören Hettler und Sven Streibel

„Wir sehen gegenwärtig noch keine echten Kaufkurse“

Die Finanzmärkte sind derzeit in einem anfälligen Zustand. Im Interview der Börsen-Zeitung erläutern Sören Hettler, seit Juli 2022 Leiter für Anlagestrategie und Privatkunden im Research der DZ Bank, sowie Sven Streibel, ebenfalls seit Juli Chef-Aktienstratege bei der DZ Bank, wie sich Anleger derzeit am besten positionieren.

„Wir sehen gegenwärtig noch keine echten Kaufkurse“

Dieter Kuckelkorn.

Herr Hettler, Herr Streibel, der Aktienmarkt hat mit dem Beginn des Ukraine-Kriegs deutlich korrigiert. Mittlerweile hat es eine gewisse Erholung gegeben, die wirtschaftlichen Schwierigkeiten für Europa nehmen aber eher zu. Wie wird sich daher der Aktienmarkt in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln?

Streibel: Im gegenwärtigen Umfeld halten wir an unseren vor rund zwei Monaten erstellten Pro­gnosen weiter fest. Für den Dax erwarten wir zum Ende des Jahres 14500 und für den S&P500 4000 Zähler. Obwohl sich das Kursniveau auf einem recht niedrigen Niveau befindet und trotz der Erholung im Juli sehen wir gegenwärtig noch keine echten Kaufkurse. Die großen Unsicherheiten wie die Inflation und die aggressive Politik der Notenbanken, die Null-Covid-Strategie in China, die zu weltweiten Lieferengpässen geführt hat, und der Ukraine-Krieg belasten nach wie vor das Sentiment an den Börsen. Mittelfristig kann es aber fast nur besser werden. Dahinter steht die Überlegung, dass eine Entspannung bei den derzeit sehr groß erscheinenden Konjunkturrisiken bis zum Jahresende wahrscheinlich ist, was die Aktienkurse beflügeln dürfte. Momentan ist die Stimmung sehr schlecht. Das ist die ideale Ausgangsbasis für positive Überraschungen. So haben wir beispielsweise schon gesehen, dass die bisherige Berichtssaison besser gelaufen ist, als allgemein erwartet wurde. Zudem ist der komplette Ausfall sämtlicher Gaslieferungen bislang ausgeblieben. Allerdings sprechen wir derzeit noch von einer Bärenmarktrally, für einen echten Aktienmarktaufschwung ist es noch zu früh.

Zuletzt hatte beispielsweise die EU noch einmal eindringlich ge­warnt, dass es zu einem kompletten Ausfall der Gaslieferungen kommen könnte. Der Markt hat das fast mit einem Achselzucken weggesteckt. Warum?

Hettler: Der Markt hat das Szenario, dass die Lieferungen ausfallen könnten, zu einem gewissen Grad schon durchgespielt. Insofern würde ich nicht sagen, dass die Gefahren einfach weggesteckt wurden. Die Warnungen der EU sind hingegen für die Investoren keine Neuigkeit mehr – vielmehr ist das Risiko den Marktteilnehmern schon länger bewusst. Für die Energieversorgung ist derzeit unser Hauptszenario, dass es zwar eng wird, die Versorgung mit den schon umgesetzten und geplanten Einsparungen sowie zusätzlichen Flüssiggaskapazitäten aber letztlich ausreicht. Sollte es wider Erwarten zu einem Gasmangel kommen, wären wir mit einem Rezessionsszenario konfrontiert.

Mit Taiwan hat sich ein neuer Krisenherd aufgetan. Sollte sich daraus ein neuer Wirtschaftskrieg zwischen China und den USA entwickeln, wäre das ebenfalls eine Gefahr für die weltweite Konjunktur und die Aktienmärkte.

Streibel: Das ist richtig, es ist ein weiteres Risiko, das sich zu den bereits bestehenden Problemfeldern addiert. In einem solchen Fall könnten sich die globalen Lieferkettenprobleme wieder weiter verschlechtern.

Hettler: Die Problematik eines amerikanisch-chinesischen Handelskriegs hat vor ein paar Jahren, als das Thema aufkam, riesige Wellen geschlagen. Es ist zu berücksichtigen, dass zu dem Zeitpunkt, als sich die Gefahr eines Wirtschaftskriegs ab­zeichnete, beide Seiten aus einer starken Position heraus in den Konflikt gegangen sind. Das ist derzeit nicht der Fall. China hat aktuell mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen, und die USA stehen kurz vor den Zwischenwahlen. Insofern dürfte das Interesse beider Seiten, einen Wirtschaftskrieg zu beginnen und sich den zusätzlichen Belastungen auszusetzen, momentan deutlich geringer sein. Sollte es zu einer Eskalation kommen, würde dies die Märkte erneut belasten.

Angesichts der Vielzahl von Risikofaktoren und Krisen ist es für Anleger derzeit besonders schwierig, sich zu positionieren. Was raten Sie Investoren am Aktienmarkt? Welche Sektoren sind derzeit noch interessant, welche sollten gemieden werden?

Streibel: Im aktuellen Umfeld der Konjunkturrisiken und Rezessionsgefahren kann es jederzeit erneut zu Marktverwerfungen kommen. Konjunkturunabhängige und defensive Sektoren sind daher im Gegensatz zu Zyklikern zunächst noch zu bevorzugen. Konkret heißt das, eher auf Branchen wie Güter des persönlichen Bedarfs, etwa Food & Beverage, anstatt beispielsweise Rohstoffe wie Industriemetalle zu setzen. Im Zuge der globalen Zinswende, allen voran in den USA, haben die defensiven Sektoren, die über Jahre hinweg aufgrund der Niedrigzinspolitik hoch bewertet wurden, stark gelitten. Wegen ihrer relativen Konjunkturunabhängigkeit sind dies nun die Aktien, die stärker gesucht werden. Ins Auge fallen auch die großen amerikanischen Technologieunternehmen, die in der aktuellen Berichtssaison zum Teil sehr positiv überraschen konnten und mit Kursgewinnen dafür belohnt wurden. Big Tech hat maßgeblich für den Aufschwung am US-Markt im Juli gesorgt.

Wie stellt sich für Sie gegenwärtig die in der Vergangenheit oft kritisierte Bewertung amerikanischer Technologieunternehmen dar?

Streibel: Diese Werte sind trotz der Kursrückgänge im ersten Halbjahr weiterhin sowohl im historischen Vergleich als auch mit Blick auf andere Branchen hoch bewertet – insbesondere die großen Player aus den USA. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass man diese Werte pauschal als teuer abstempeln kann, denn es hat sich auch in der aktuellen Berichtssaison gezeigt, dass diese Unternehmen gerade in Krisenzeiten wegen ihrer Ertragsstärke als „sichere Häfen“ gesucht werden. So hat Apple trotz Lieferschwierigkeiten seinen Quartalsumsatz erhöht. Insofern kann aufgrund der Zukunftsfähigkeit der Geschäftsmodelle eine hohe Bewertung durchaus gerechtfertigt sein.

Sehen Sie angesichts der aktuellen Krisen Chancen im Energie­sektor?

Streibel: Wenn wir über den Bereich der fossilen Energieträger sprechen, muss man strikt zwischen der kurzfristigen und der langfristigen Betrachtung trennen. So sind die starken Kursgewinne in diesem Jahr auf die aktuell hohen Energiepreise zurückzuführen, die den Unternehmen aus dieser Branche enorme Gewinne bescheren. Mittelfristig ist davon auszugehen, dass der Aufwärtsdruck bei Öl- und Energiepreisen nachlassen dürfte, unter anderem wegen der möglichen Konjunktureintrübung. Dies schmälert mittel- und längerfristige Gewinnerwartungen. Die Titel können daher kurzfristig noch interessant sein, mittelfristig muss man bei diesen Investments auch unter Umweltgesichtspunkten genau hinschauen. Langfristig sind fossile Energien kein Megatrend mehr, sondern die erneuerbaren Energien.

Und wie steht es aktuell mit Investments in erneuerbare Energien?

Streibel: Dabei handelt es sich in jedem Fall um einen Megatrend, der für die Zukunft relevant ist. Dementsprechend ist dieser Sektor für die langfristige Anlage sehr interessant, auch mit Blick auf die staatlichen Förderungen, wie man zum Beispiel am jüngst beschlossenen US-Klimaschutzpaket erkennt. Allerdings gab es in den vergangenen Jahren auch schon einen gewissen Hype um dieses Thema, so dass Unternehmen mit entsprechender Fokussierung zum Teil anspruchsvolle Bewertungen erreicht haben. Kurzfristige Kurschancen bleiben dadurch begrenzt, langfristig birgt der Bereich enormes Potenzial. Mit Blick auf den Versorgersektor bevorzugen wir ebenso diejenigen Unternehmen, die sich bereits auf erneuerbare Energien fokussiert haben, im Gegensatz zu denjenigen Versorgern, die noch auf die fossilen Energien ausgerichtet sind. Die letztgenannten Aktien sind entsprechend stark abhängig von der gegenwärtigen Nachrichtenlage so­wie von Umweltregulierungen.

Betrachten wir die Zinsmärkte und das relevante konjunkturelle Umfeld. Wie weit werden die Zinsen noch steigen?

Hettler: Was die Leitzinswende betrifft, stehen wir im Euroraum ganz am Anfang. Die Europäische Zentralbank hat im Juli die erste Zinserhöhung seit elf Jahren beschlossen. Damit sind wir beim Einlagesatz – derzeit faktisch der Leitzins – gerade einmal aus der negativen Zone heraus. Die USA sind da schon ein erhebliches Stück weiter. Aktuell bewegt sich die Federal Reserve geldpolitisch auf neutralem Terrain. Das dürfte sich bald ändern. Mitte nächsten Jahres sollte der US-Leitzins bis auf 3,75% angehoben werden. Die Europäische Zentralbank dürfte hingegen ein geldpolitisch neutrales Leitzinsniveau um 1,50% anstreben. An den Rentenmärkten haben wir zuletzt einen recht deutlichen Rückgang der Renditen gesehen, was mit den Konjunkturrisiken zusammenhängt, die mehr und mehr eingepreist wurden. Diesen Rückgang sehe ich aber als vorübergehend an. Ich gehe davon aus, dass sich die derzeit auch an diesen Märkten sehr negative Stimmung in den nächsten Quartalen aufhellen wird. Dies dürfte die zehnjährige Bundrendite mittelfristig wieder über die Marke von 1% bringen. Bei den zehnjährigen US-Treasuries sollte das Zinsniveau erneut auf deutlich über 3% klettern. Dadurch werden Anleihen natürlich für Investoren als Anlagealternative wieder attraktiver. Was die Inflation betrifft, so gehen wir nicht davon aus, dass es eine Rückkehr zum disinflationären Umfeld der letzten Dekade geben wird. Dazu tragen strukturelle Faktoren wie die expansivere Fiskalpolitik oder der Wandel zu einer nachhaltigen Wirtschaft bei.

Was bedeutet das für Aktien aus der Finanzbranche?

Hettler: Das Zinsumfeld ist natürlich für die Banken sehr relevant, gerade mit Blick auf die klassische Fristentransformation, die über viele Jahre schwierig war. Außerdem leiden die Banken nun nicht mehr unter dem Strafzins für Einlagen bei der EZB, den es über viele Jahre gegeben hat. Den Versicherern wird es in den nächsten Jahren leichter fallen, ihre Garantiezinszusagen zu erfüllen. In den vergangenen Jahren mussten sie stark in die Zusatzreserven einzahlen, nun können sie vielleicht daraus wieder Mittel entnehmen. Auch für die Börsenbetreiber ist es wichtig, dass es wieder ein höheres Zinsniveau gibt. Eine höhere Volatilität an den Märkten und mehr Absicherungsbedarf dürften die Folge sein. Hiervon sollten die Erträge der Börsen profitieren. Zentralverwahrer wie Clearstream können hinterlegte Sicherheiten renditeträchtiger investieren. Da bedeuten 100 Basispunkte beim Zinsniveau für eine Staatsanleihe durchaus einen Unterschied.

Streibel: Der Bankensektor profitiert davon, wenn die Konjunktur an­springt und läuft. Wenn sich die derzeit groß diskutierten Konjunkturrisiken wieder abmildern und zumindest teilweise auflösen, wird es diesem Sektor stark zugutekommen. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, dass die teils recht aggressive Zinswende der Notenbanken für den gesamten Aktienmarkt aktuell nicht gerade förderlich ist.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach der Kurs des Euro entwickeln, der ja zeitweise auf die Parität zum Dollar gefallen war?

Hettler: Angenehm ist die Situation für den Euro derzeit nicht. Die Stimmung am Devisenmarkt ist seit längerem eindeutig zugunsten des Dollar ausgerichtet. Dies mag zwar bis zu einem gewissen Grad aufgrund der unterschiedlichen Geschwindigkeiten bei den Leitzinsanhebungen sowie der vorherrschenden Konjunkturrisiken gerechtfertigt sein – und auch ein erneutes Absinken des Euro unter die Parität zum Dollar ist sicherlich kurzfristig nicht auszuschließen. Ich bin allerdings davon überzeugt, dass der Euro momentan unterbewertet ist. Nicht nur dürfte die US-Wirtschaft im Winterhalbjahr in eine echte Rezession rutschen. Darüber hinaus sollten sich in Europa die Befürchtungen eines bevorstehenden Gasmangels inklusive staatlicher Rationierungen nicht bestätigen. Die EZB mag lange Zeit zögerlich agiert haben. Zuletzt hat sie aber klar zum Ausdruck gebracht, dass sie entschlossen gegen den zu hohen Preisdruck vorgehen will und wird. Sorgen, die im Euro momentan eingepreist sind, sollten sich folglich als überzogen erweisen, und die Ge­meinschaftswährung hätte deutlich Luft nach oben. Auch die Kaufkraftparität, die als langfristige Orientierungsgröße gilt, spricht eindeutig für höhere Kurse des Währungspaares. Diese Einschätzungen spiegeln sich in unserer Prognose für die Gemeinschaftswährung wider, die momentan bei 1,08 Dollar auf Sicht von zwölf Monaten liegt.

Mit Blick auf die Entwicklung der Devisenkurse, aber auch die globale Konjunktur, welche Regionen sehen Sie für Aktienanleger als besonders interessant an, welche sollten gemieden werden?

Streibel: Die konjunkturellen Risiken der aktuellen Krisen wie des Ukraine-Kriegs haben eine globale Wirkung. Allerdings sind wir in Europa von den in der Nachbarschaft stattfindenden Kampfhandlungen natürlich stärker betroffen, auch wegen der starken Exportorientierung der Wirtschaft in der Eurozone. Europäische Aktien hängen daher grundsätzlich stärker an der globalen Wirtschaftsentwicklung als US-Titel, weil die amerikanische Wirtschaft wegen des großen Binnenmarktes in dieser Hinsicht weniger anfällig für äußere Einflüsse ist. Selbst wenn wir für das Winterhalbjahr von einer US-Rezession ausgehen, ist zu berücksichtigen, dass die USA für die europäischen und insbesondere die deutschen Unternehmen ein bedeutender Ab­satzmarkt sind. Wenn sich also in den USA die Konjunktur eintrübt, leiden europäische Unternehmen mit – unabhängig von der Situation im Euroraum. In dieser Gemengelage gehe ich davon aus, dass für Aktienanleger die USA zumindest kurzfristig ein sichererer Hafen als Europa sind.

Die USA sind also eine attraktivere Region für Aktienanleger als die Eurozone. Wie sieht es aber hinsichtlich Asiens aus? Es gibt ja auch in China eine deutliche konjunkturelle Abschwächung.

Streibel: China hat große hausgemachte Probleme. Zu nennen ist die harte Reaktion auf die Corona-Pandemie, wobei immer noch nicht abzusehen ist, ob zeitnah eine merkliche Lockerung eingeleitet wird. Darüber hinaus stehen viele Dinge im Raum, die mit Regulierung der Wirtschaft zu tun haben, insbesondere der chinesischen Technologieunternehmen. Darüber hinaus sind die Krise und die Regulierung des Immobiliensektors bedeutende Einflussfaktoren. All dies belastet den chinesischen Aktienmarkt. Dies bedeutet allerdings auch, dass es im chinesischen Aktienmarkt ein bedeutendes Erholungspotenzial gibt, sofern Peking von diesen strengen Regeln ernsthaft abrückt. Derartige Beispiele hat man ja auch bereits an einigen Stellen gesehen. So hat die Regierung Anfang März lediglich versprochen, die Transparenz für ausländische Investoren zu verbessern. Als Folge davon ist der Markt durch die Decke gegangen, was wir bis nach Deutschland gespürt haben. Es ist also viel Kurspotenzial vorhanden.

Also wären Ihrer Meinung nach Engagements im chinesischen Aktienmarkt sinnvoll?

Streibel: Der chinesische Aktienmarkt selbst ist, wie erwähnt, wegen der starken Beeinflussung durch die Regierung in einem deutlich größeren Ausmaß eine „Black Box“ als andere globale Aktienmärkte und daher für die ein oder andere negative Überraschung gut. Ein weiteres Problem ist, dass am chinesischen Aktienmarkt Privatanleger stark be­teiligt sind, die sehr sprunghaft investieren und daher für erhöhte Kursschwankungen sorgen können. Anleger, die aktuell in das chinesische Aufschwungspotenzial investieren möchten, sollten meiner Meinung nach Segmente bevorzugen, die indirekt daran partizipieren. Da wäre allen voran der Dax zu nennen, wegen der umfangreichen Exporte deutscher Unternehmen nach China.

Das Interview führte

BZ+
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