Jari Stehn, Goldman Sachs

„Transformation allen Ländern ermöglichen“

Jari Stehn, Europa-Chefvolkswirt von Goldman Sachs, erläutert seine Zuversicht für die Euro-Wirtschaft, warum er besonders auf die Kerninflation schaut und welche Auswirkungen die gesunkenen Energiepreise haben.

„Transformation allen Ländern ermöglichen“

Alexandra Baude.

Herr Stehn, mit +0,6% im Jahr 2023 für den Euroraum haben Sie eine vergleichsweise optimistische Prognose abgegeben. Woher kommt die Zuversicht?

Wir erwarten, dass der Euroraum eine Rezession vermeiden kann – was wirklich erstaunlich wäre bei so hoher Inflation und Energiepreisen. Dafür gibt es drei Hauptgründe: Erstens hat sich der Datenfluss als wesentlich besser entpuppt als ursprünglich erwartet. Die harten Daten, zum Beispiel die Industrieproduktion, haben sich als resistenter herausgestellt, und bei den Erwartungsindikatoren wie Einkaufsmanagerindex oder Ifo-Geschäftsklima sieht es jetzt so aus, als wäre der Tiefpunkt hinter uns und der Optimismus zurückgekehrt. Zweitens werden die Gaspreise im Sommer zwar aufgrund der Wiedereröffnung der chinesischen Wirtschaft und des Auffüllens der Gasspeicher steigen, aber nicht mehr annähernd so stark wie vorher. Das ist wichtig für die Inflation. Der dritte Punkt ist China. Wir erwarten, dass die Wirtschaft dort zum zweiten Quartal hin stark anziehen wird. Aber man muss natürlich auch sagen, dass 0,6% nicht gerade ein sehr starkes Wachstum ist.

Die Stimmungsbarometer und die harten Daten laufen stark auseinander und geben widersprüchliche Signale. Welcher Indikator bildet die aktuelle Wirtschaftslage am besten ab?

Im Sommer waren die Umfrageindikatoren stark eingebrochen, bis auf Rezessionsniveau, und die harten Daten haben sich gut gehalten. Nun schießen die Stimmungsbarometer nach oben, und die harten Daten laufen immer noch seitwärts. Insofern, glaube ich, muss man ein Auge auf beides halten, um nicht in die Irre geführt zu werden. Am hilfreichsten finde ich, sich einen gewichteten Durchschnitt anzuschauen, der beide Seiten abdeckt. Im Moment sind die Daten grob mit einer Stagnation vereinbar, wobei das Momentum positiv in Richtung zweites Quartal ist.

Der Arbeitsmarkt hat sich in der Polykrise als sehr robust erwiesen. Mit ein Argument, warum sich auch der Konsum der privaten Haushalte besser gehalten hat als befürchtet. Wie geht es da weiter?

Richtig, der Arbeitsmarkt ist trotz der Wachstumsschwäche insgesamt sehr stark geblieben – wie auch in anderen Ländern, etwa den USA oder Großbritannien. Wir erwarten nur einen relativ milden Anstieg der Arbeitslosenquote vom Rekordtief bei 6,5% auf etwa 6,8% im zweiten Quartal 2023. Wichtig für die Inflation wird aber sein, wie es mit der Lohnentwicklung weitergeht. Da hat das Wachstum auf 3,6% angezogen, was für den Euroraum schon einiges ist. Wir erwarten einen Höchststand von 4,7% im ersten Quartal, bevor es Ende 2023 nachlässt.

Die Inflation gilt als eines der Hauptprobleme der Wirtschaft: Ist hier der Höhepunkt tatsächlich überschritten?

Ja, ab März sollten die Inflationsraten rapide fallen. Wir erwarten im Euroraum für das Ende des Jahres eine Headline-Rate von 3,25%. Das ist schon ein sehr guter Fortschritt. Die Hauptfrage ist aber, was mit der Kerninflation passiert. Hier sollte die Abkühlung langsamer verlaufen: Von derzeit 5% auf 3,25% zum Jahresende. Interessant ist, die Kerninflation aufzusplitten nach den Preisen für Waren und Dienstleistungen. Wegen der nachlassenden globalen Lieferengpässe wird sich die Güterpreisinflation stark abschwächen, wie schon in den USA. Wegen der verzögerten Weitergabe der gestiegenen Energie- und Arbeitskosten wird sich die Dienstleistungsinflation als etwas persistenter entpuppen. Eine sehr wichtige Frage für die Europäische Zentralbank (EZB) mit Blick auf die Steuerung des Leitzinses.

Wo wird dieser am Ende liegen?

Wir sehen aktuell als finales Ziel 3,25% im Mai. Das ist ein Zinsniveau, bei dem man schon sagen kann, dass es klar restriktiv ist. Eine Zinssenkung, wie sie die Märkte bereits einpreisen – wenn auch nicht so ausgeprägt wie in den USA mit Blick auf die Fed – erwarten wir erst Ende 2024. Die Fed dürfte die Zinsen auf 5% bis 5,25% erhöhen und bis zum zweiten Quartal 2024 dort belassen. Interessant wird die Reaktion der EZB auf die aktuell niedrigeren Gaspreise sein. Wenn dadurch die Headline-Inflation schneller zurückgeht, könnte die EZB vielleicht früher mit den Zinserhöhungen aufhören. Gleichzeitig ist das Wachstum stärker als erwartet und zusammen mit den höheren Löhnen und der Dienstleistungsinflation ein Argument, den Erhöhungszyklus nicht so schnell zu beenden.

Die Energiepreise beeinflussen wegen der unterschiedlich starken Energieabhängigkeit der einzelnen Euro-Länder auch deren Wachstumstempo – wer liegt vorne, wer hinten?

Da sehen wir ein recht klares Bild: Deutschland und Italien haben mehr gasintensive Industrieaktivität und darum bisher mehr Gas aus Russland bezogen als andere Länder. Sie werden daher schwächer wachsen als etwa Frankreich und Spanien, die ein diversifiziertes Energieangebot haben. Auch wenn es in Frankreich mit dem Fokus auf Atomenergie derzeit Probleme gibt. Ein weiterer Faktor sind die Dienstleistungsaktivitäten. Hier gibt es noch eine Lücke zu schließen im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit. Dies sieht man etwa in Spanien, insbesondere im Tourismus.

Die USA werden als Standort durch die niedrigen Energiepreise attraktiv, der Inflation Reduction Act (IRA) tut sein Übriges: Wie groß ist die Gefahr, dass Industrieunternehmen aus Europa abwandern?

Da kann es schon vereinzelt Abwanderungen oder negative Effekte geben. Aufgrund der nun wieder gefallenen Energiepreise sollten sie aber nicht ganz so dramatisch ausfallen, wie es vielleicht vor sechs Monaten der Fall zu sein schien. Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind die längerfristigen Folgen der dauerhaft höheren Energiekosten interessanter: Die Wachstumsrate im Euroraum wird wohl nicht beeinflusst werden, wohl aber das Niveau der Wirtschaftsaktivität.

Was wäre in Ihren Augen eine zielführende Antwort Europas auf den IRA?

Ich glaube, es ist wichtig, das in das existierende Konstrukt von Next Gen­ EU und Repower EU einzubetten. Am einfachsten wird wohl sein, die ungenutzten Kapazitäten aus dem Wiederaufbaufonds zu nutzen, auch wenn sie dann ein bisschen limitiert sind. Oder man geht einen Schritt weiter und baut noch mal ein neues EU-weites Programm auf. Im End­effekt sollte über EU-weite Solidarität und Koordination sichergestellt sein, dass die notwendige Energietransformation in allen Ländern möglich ist – gerade auch in jenen mit hoher Verschuldung.

Statt einen Subventionswettlauf zu starten, sollten Protektionismus, Investitions- und Handelsbarrieren abgebaut werden. Nun hat Bundesfinanzminister Christian Lindner die Idee einer Freihandelszone der Demokratien aufgebracht. Welche Chance räumen Sie dieser Initiative ein?

Handelsspannungen sind für Europa generell schlecht, insbesondere für Deutschland. Insofern ist es aus wirtschaftlicher Sicht durchaus sinnvoll, alle Schritte zu unterstützen, die den Freihandel stärken. Natürlich muss man das auch balancieren mit Unterstützung von gewissen Industrien, jetzt auch mit Initiativen für die grüne Transformation. Aber noch sind zu wenige Details bekannt, um die Initiative bewerten zu können.

Das Interview führte

BZ+
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