US-Aktienmarkt

Wall Street im Bann der Geldpolitik

Die Wall Street hat ihr schwächstes Jahr seit 2008 hinter sich. Nun drohen weitere Rückschläge – denn ein Umfeld anhaltend höherer Zinsen ist bei Mega Caps laut Analysten immer noch nicht eingepreist.

Wall Street im Bann der Geldpolitik

Alex Wehnert

Von , Frankfurt

Nach dem schwächsten Jahr der US-Börsen seit 2008 hält sich der Optimismus an der Wall Street in engen Grenzen. Denn die restriktive Geldpolitik der Federal Reserve drückt trotz zwischenzeitlicher Hoffnungen auf vorsichtigere Straffungen die Stimmung – und die Sorgen vor einer schweren Rezession in den Vereinigten Staaten verhärten sich.

So bezeichnen die Analysten von Bloomberg Intelligence die Inversion der Treasury-Zinskurve im vierten Quartal 2022 als besorgniserregendes Signal für die Wirtschaft und die Aktienmärkte. Einer solchen Situation, in der die kurzfristigen Anleiherenditen über den langfristigen lägen, sei seit 1962 im Median binnen 340 Tagen eine Rezession gefolgt. Ökonomen fürchten indes auch aufgrund erneut steigender Corona-Infektionszahlen, dass die US-Wirtschaft im aktuellen Szenario noch schneller einbrechen könnte, Ein Bericht der Fed von St. Louis, der sich auf Daten zum Arbeitsmarkt sowie zur Produktivität und Preisentwicklung bezieht, hebt die stockende ökonomische Aktivität in 27 der 50 Bundesstaaten hervor. Dieser Wert liege bereits über dem Median der vergangenen sechs Rezessionen, denen im Mittel eine Eintrübung in 26 Staaten vorausging.

Zuletzt habe sich der Spread zwischen der Rendite der zwei- und der zehnjährigen US-Staatsanleihe kaum verringert, nachdem er die höchsten Niveaus seit 2001 erreicht habe, betont das Research-Team von Bloomberg Intellligence. Die Positionierungen der Teilnehmer am Terminmarkt deuteten unterdessen darauf hin, dass die Zinskurve für einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren invertiert bleiben könne – der Bondmarkt rechne also wohl mit einer langgezogenen Phase ökonomischer Schwäche.

In der historischen Betrachtung seit 1962 hat der S&P 500 im Jahr nach einer Zinskurveninversion im Mittel um 8,3 % nachgegeben. Dabei kommt das marktbreite Barometer bereits aus einer massiven Schwächephase, das Jahr 2022 schloss es mit einem Rücksetzer um 19,4 % ab. Der technologielastige Nasdaq 100 stand sogar noch stärker unter Druck und gab um 33 % nach.

Für Investoren stellt sich nun die Frage, inwieweit die Rezession nach den Kursstürzen des abgelaufenen Jahres bereits eingepreist ist. Zwar sagen die Analysten aller großen Wall-Street-Banken für 2023 einen Anstieg des S&P 500 gegenüber dem Schlussniveau des abgelaufenen Jahres von 3839 Punkten voraus. Allerdings zweifeln Anleger angesichts der zuletzt schwachen Prognosequalität daran, dass sich diese Vorhersagen auch erfüllen. Denn unter allen Top-Investmentfirmen an der Wall Street setzte Morgan Stanley Ende 2021 das niedrigste S&P-500-Kursziel für 2022 – es lautete aber noch auf stolze 4400 Punkte.

Dabei sagten die Investmenthäuser die fundamentale Entwicklung im US-Standardbarometer fast exakt voraus: Laut dem Informationsdienstleister Fact Set lautete die Ende 2021 Konsensprognose für den Gewinn pro Aktie im S&P 500 im abgelaufenen Jahr auf 221 Dollar pro Aktie – und damit nur 0,2% unter dem Wert, der auf Basis der zu den ersten drei Quartalen sowie den Schätzungen zum vierten Quartal nun tatsächlich erwartet wird. Noch in den beiden Vorjahren hatten die Analysten mit ihren Prognosen zur Gewinnentwicklung um jeweils mehr als 23% daneben gelegen.

Dass die Investmenthäuser trotz der neuen Präzision ihrer Vorhersagen für die Gewinne keine Treffer bezüglich der Kursentwicklung landeten, ist vor allem auf grundlegende Fehleinschätzungen zur Inflation zurückzuführen. So glaubten die Analysten daran, dass die coronabedingten globalen Lieferkettenprobleme sich auflösen und damit auch die Teuerung zurückgehen würde. Damit verbunden war die Hoffnung auf eine vorsichtige geldpolitische Straffung durch die Fed. Entgegen diesen Annahmen stiegen die Preise sowohl im verarbeitenden Gewerbe als auch im Dienstleistungssektor massiv, die Fed erhöhte ihren Leitzins in Reaktion auf die hohe Teuerung 2022 siebenmal bis in die Spanne von 4,25 bis 4,5%.

Klotz am Bein

Obwohl damit das höchste Niveau seit 15 Jahren erreicht ist, hat Fed-Chef Jerome Powell betont, dass die Währungshüter im Ringen um Preisstabilität noch einen weiten Weg zu gehen haben. Dies trübt die Aussichten insbesondere für Wachstumswerte ein, deren größte Vertreter 2020 und 2021 noch einen Großteil der Wertschöpfung an den US-Börsen generierten – für die Standardindizes nun aber zum Klotz am Bein geworden sind.

Die Tech-Riesen haben im abgelaufenen Jahr hunderte Milliarden Dollar an Marktkapitalisierung verbrannt und neben der restriktiven Geldpolitik noch mit weiteren spezifischen Problemen zu kämpfen. Apple ringt mit Schwierigkeiten bei der Produktion in China, Alphabet, Amazon und Meta Platforms müssen eine deutlich niedrigere Ausgabebereitschaft von Werbekunden verkraften, bei Microsoft befinden sich die Aktionäre nach einer Klage der US-Wettbewerbsaufsicht FTC in Unsicherheit über die im Januar groß angekündigte Übernahme des Spiele-Giganten Activision Blizzard, und Tesla leidet anhaltend unter den Kontroversen um Vorstandschef Elon Musk. Hinzu kommt die Furcht vor weiteren Lieferkettenproblemen der Tech-Konzerne durch Verwerfungen am Chipmarkt. Dazu trägt auch der wieder hochgekochte Handelskonflikt zwischen Washington und Peking bei – bereits im Oktober beschloss die US-Regierung umfangreiche Beschränkungen in Bezug auf Halbleiterexporte nach China.

Trotz dieser Entwicklungen, betonen die Analysten von Bloomberg Intelligence, handelten die Mega Caps noch mit starken Aufschlägen gegenüber dem Rest des Marktes. Dies deute darauf hin, dass Investoren immer noch nicht auf ein Umfeld vorbereitet seien, in dem die Zinsen für lange Zeit hoch blieben.

Ob eine verbesserte Gewinnentwicklung der Unternehmen im S&P 500 in den kommenden Monaten anders als 2022 die Effekte der restriktiven Geldpolitik auf die Kurse abfedern kann, gilt als fraglich – zumal die Lohninflation laut Analysten zunächst auf der Profitabilität lasten dürfte. Bloomberg Intelligence rechnet für das erste Quartal mit einem Rückgang der operativen Margen im S&P 500 auf 15,4% nach 15,7% im Vorjahr. In den Rohstoff-, Kommunikations- und IT-Sektoren sei mit stärkeren Negativentwicklungen zu rechnen. Ab der Jahresmitte sei dann ein stärkerer Aufschwung der Gewinne im marktbreiten US-Index zu erwarten. Die Konsensprognose für das Jahresende 2023 von 232,53 Dollar pro Aktie impliziert gegenüber der Schätzung für 2022 immerhin einen Anstieg von über 5%. Allerdings dürfte sich dieser laut Bloomberg Intelligence angesichts des angespannten Liquiditätsumfelds immer noch nur bedingt auf die Aktienkurse durchschlagen. Zudem gehe die schwache Entwicklung des freien Cashflows in den vergangenen Monaten mit einem Rückgang der Barreserven der S&P-500-Gesellschaften einher. Diese hätten sich – Finanzwerte ausgenommen – im dritten Quartal auf lediglich 1,1 Bill. Dollar belaufen, was einen Rückgang von 12% gegenüber dem Vorjahreszeitraum bedeutete.

Weniger Kapital verfügbar

Noch stiegen die Dividenden, Investitionsausgaben und die für Transaktionen aufgewandten Mittel zwar, allerdings stehe dafür in den kommenden Monaten nun wesentlich weniger Kapital zur Verfügung. Das Volumen der Aktienrückkäufe, einer entscheidenden Komponente des Total Shareholder Return am US-Aktienmarkt, ist indes bereits deutlich gesunken, nachdem es im ersten Quartal 2022 noch ein Hoch von 271 Mrd. Dollar erreichte.

Für einzelne Segmente des US-Aktienmarkts sehen Analysten zwar durchaus Potenzial – so ist die Korrektur bei Small Caps im abgelaufenen Jahr laut Bloomberg Intelligence möglicherweise zu weit gegangen, während die günstig bewerteten und mit einem robusten Kreditprofil ausgestatteten Value-Titel weiterhin im Aufwärtstrend lägen. Doch der Druck auf große Growth-Werte als Zugpferde der amerikanischen Börsen hält an. Der Wall Street droht damit ein weiteres ungemütliches Jahr.

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